Von Demos und Kosmopolis – Identität in Israel

https://unsplash.com/de/fotos/Y8r0RTNrIWM
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Bericht/Essay eines Gastautors
Veröffentlicht am
24. März 2023
Lesedauer
4 Minuten
Seit Anfang Jahr protestieren Hunderttausende gegen die geplante Justizreform in Israel. Die rechte Regierung Netanjahus versucht mit der Reform die Gewaltentrennung zu lockern und der Exekutive mehr Macht zu verschaffen. Als erste öffentliche Institution positionierte sich die Universität Tel Aviv gegen die Revision und rief zum Protest.

Leander Link, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften 

»Ohne Demokratie, keine Akademie« lesen sich die hebräischen Schriftzeichen, die von studentischer Hand auf die unzähligen Jacken, Pullover und T-Shirts gedruckt worden sind. Dass die Universität Tel Aviv am ›Tag des eskalierenden Widerstands‹ keine Kurse durchführen kann, war absehbar gewesen. Man hatte uns Austauschstudierende auf dem Festgelände, in welches sich der Campus zum Semesterstart verwandelte, darüber informiert.

Akademischer Protest? 

Mehr oder minder offen trat in den letzten zwei Wochen auch die Opposition des Fakultätspersonals zutage. Mal ein Seitenhieb hier, eine Suggestivfrage da. Ausserhalb des Klassenzimmers dann die offen geäusserte Angst, dass das Selbstverständnis, der einzige demokratische Staat in der Region zu sein in Zukunft gar nicht mehr so selbstverständlich sein könnte. Die geplante Justizreform unter der Regierung Netanyahus sieht unter anderem vor, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs durch eine einfache Mehrheit im Knesset kippen zu können.

Bereits in der ersten E-Mail mit israelischem Absender, die ich vor gut zwei Monaten in meinem Postfach fand, wandte sich der Rektor der Universität Tel Aviv direkt an die Studentenschaft. Politisch, aber ohne Polemik verdeutlichte der Brief die Tragweite der geplanten Veränderungen. Die Universität Tel Aviv stehe jedweder Diskriminierung entgegen und würde sich den Gesetzen widersetzen, welche aus der Verwässerung der Gewaltenteilung entsprängen. Als erste öffentliche Einrichtung, die sich gegen die Justizreform ausspricht, unterstütze die Leitung jeglichen gewaltfreien Protest. 

Uns Austauschstudent:innen beschäftigt nicht nur deswegen die Frage, ob wir an dem Protest teilnehmen sollen oder nicht. Inhaltlich kann unsere Opposition unsererseits eigentlich vorausgesetzt werden, dreht sich die Reform sich um Fragen der Gewaltentrennung und der drohenden Einschränkung akademischer Freiheit. Nichtsdestotrotz gehören die wenigsten von uns der israelischen Gesellschaft an. Paradoxerweise sind kosmopolitische Werte nur über die Zugehörigkeit zu Demos vertretbar. Selbst die vermeintlich inklusive Demonstration hält sich an diese verinnerlichte Ordnung. 

Identitätsfragen jüdischer Austauschstudenten

Mehr noch als andere ringen jüdische Austauschstudierende mit dieser Ambivalenz. Viele von ihnen haben Verwandte in Israel, sehen sich aber dennoch nicht in der Position, ein Recht auf die Mitgestaltung des politischen Terrains anmelden zu können. Die vermeintlich triviale Frage, ob man an den Demonstrationen teilnimmt, verfängt sich schnell mit existentiellen Fragen der Identität und der Zugehörigkeit.

Mehr noch als an anderen Orten veranschaulicht Tel Aviv die schwindelerregende Kontingenz der Identitäten. Einer meiner Mitbewohner, ein brasilianischer Jude, kam von seiner Tagesreise nach Jerusalem mit seiner ersten Kippah nach Hause. In Brasilien war er weder in die Synagoge gegangen, noch hatte er sich an andere religiöse Bräuche gehalten. Erst die neue Gemeinschaft war es, die ihm den Zugang zu den alten Traditionen ermöglichte.

Als ich einen gläubigen Franzosen fragte, ob er sich vorstellen könne nach Israel zu ziehen, verneinte er. Während mein Mitbewohner hier erstmals in Kontakt mit dem jüdischen Glauben kam, geht der französische Student umgekehrt davon aus, dass er in Israel seinen Glauben verlieren würde. Hier umfasse die Glaubensgemeinschaft auch die konservative politische Haltung. Glauben ohne Gemeinschaft sei nicht möglich und seine abweichende politische Meinung liesse eine wahre Zugehörigkeit nicht zu.  

Um mit einem soziologischen Gedanken zu enden, scheint die Entdifferenzierung der gesellschaftlichen Systeme in Israel mit der Entdifferenzierung der Identitäten einherzugehen. Wie das letzte Beispiel verdeutlicht, gleichen Bildung, Wirtschaft, Politik und Religion die Grenzen ihrer Untergruppen aneinander an. Die religiöse Gemeinschaft schafft Unterschiede bezüglich der Schulart, der wirtschaftlichen Betätigung, der politischen Gesinnung und der militärischen Teilhabe. Damit verlaufen die gesellschaftlichen Oppositionen verschiedener Systeme plötzlich analog zueinander. Umso wichtiger ist daher die Anwesenheit von Identitäten, welche gerade nicht in diese Schablone passen.

Leander Link studiert dieses Semester an der Partneruniversität Tel Aviv und belegt seit Anfang März Kurse in Politikwissenschaften und Judaistik

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