Vom Druck, ständig produktiv sein zu müssen

Format
Bericht
Lesedauer
4 Minuten
Veröffentlicht am
24. Oktober 2022

Für viele Leute scheint sich der Wert eines Studiums vor allem daran zu messen, wie viel damit später verdient werden kann. Es wird erwartet, dass wir immer produktiv und leistungsfähig sind. Mehr zu diesen Themen im folgenden Artikel.

Text: Angela Baumann, Philosophy, Politics and Economics
Design: Arianna Cambianica, Gesellschafts-und Kommunikationswissenschaften

«Und was kannst du denn mit deinem Studium später machen?» Vielen Studierenden, insbesondere in geisteswissenschaftlichen Fächern, dürfte diese Frage bestens bekannt sein. Ich antworte darauf meistens, dass ich mir meine Zukunft noch offen lasse, mal schauen werde, wo es mich hintreibt, vielleicht in die Forschung oder in den Journalismus, vielleicht auch in die Kulturbranche, in die Politik oder zu einer NGO. Ich weiss noch nicht, wo ich landen werde, und das ist auch okay so. Gerade, weil ich mit Philosophy, Politics and Economics (PPE) einen sehr interdisziplinären Studiengang gewählt habe, stehen mir viele Möglichkeiten offen.

Trotzdem geben sich viele Leute mit meiner Antwort nicht zufrieden. «Aber du musst doch wissen, wofür du überhaupt studierst», heisst es häufig. Oder aber mir wird geraten, besser in die Wirtschaft zu gehen, das studiere ich ja auch, und da verdiene man schliesslich viel mehr. So wird, zumindest wenn ich mich ausserhalb meiner geisteswissenschaftlichen Blase befinde, die Ökonomie häufig als wertvollster Teil meines Studiums aufgefasst. Der Wert meines Studiums scheint sich für viele Leute daran zu bemessen, wie viel ich damit später verdienen kann und wie klar es mich auf einen bestimmten Beruf vorbereitet.

Bildung ist nicht gleich Ausbildung

Dabei wird häufig vergessen, dass es sich bei einer tertiären Bildung eben primär um Bildung, nicht um eine Ausbildung handelt. Ein Fach vorerst mal aus reinem Interesse, ohne Überlegungen über die späteren Berufsaussichten zu belegen, hat in der heutigen kapitalistischen, durch Produktivitätszwang gekennzeichneten Gesellschaft leider immer weniger Platz. Dies, obwohl die Berufswelt heute eigentlich relativ durchlässig ist. Sehr viele Menschen arbeiten nach ihrem Studium in einem komplett anderen Bereich, was übrigens auch grosse Vorteile bringen kann: Ein Arbeitsteam mit Leuten, die ganz unterschiedliche Perspektiven mitbringen, kann ein Thema viel differenzierter betrachten.

Trotzdem stosse ich bei vielen Leuten mit meiner Studienwahl auf Unverständnis. Daran stören mich vor allem zwei Sachen: Erstens schwingt immer die Unterstellung mit, dass Student*innen nur studieren, um später mehr Geld zu verdienen. Vergessen geht, dass nicht alle Karriereentscheidungen bloss auf die Maximierung des eigenen monetären Nutzens ausgerichtet sind. Zweitens steckt dahinter meist ein Werturteil, mit dem jenen Studiengängen, die generell zu besser verdienenden Jobs hinführen, mehr Wert zugesprochen wird, als anderen.

Die Regelstudienzeit

Sobald man das Studium nicht in der Regelstudienzeit abschliesst, gerät man in Erklärungszwang. Ein Nebenjob reicht meist als Rechtfertigung aus, aber dann auch nur für ein oder höchstens zwei zusätzliche Semester. Dabei gibt es so viele andere Gründe, warum ein Studium nicht in sechs Semestern abgeschlossen werden kann oder eine Erwerbsarbeit nicht möglich ist. Obwohl heute die Regelstudienzeit in vielen Studiengängen längst nicht mehr der Normalität entspricht, werden viele Studierende schlicht als «schwach» oder «zu wenig fleissig» angesehen, wenn sie länger als sechs Semester für ihren Abschluss brauchen. Dass viele Studierende während ihrer Studienzeit mit einer psychischen oder physischen Krankheit kämpfen, mit schlecht bezahlten Studijobs irgendwie ihre Miete decken müssen, eine Trennung oder einen Verlust durchleben, sich um ein Familienmitglied kümmern müssen und durch die Corona-Pandemie das ganze Privatleben über den Haufen werfen müssen, scheint dabei kaum beachtet zu werden.

Man muss immer produktiv sein

Unser Leben ist geprägt von der Vorstellung, immer produktiv, leistungsfähig, flexibel und belastbar zu sein. Obwohl das Bewusstsein für Probleme wie die psychische Gesundheit in den letzten Jahren generell gestiegen ist, sind solche Themen in vielen Bereichen immer noch zu stark tabuisiert. Wie sich in den Diskussionen rund um Andrea Francs Interview vor einigen Wochen in der NZZ gezeigt hat, empören sich viele Leute darüber, dass einige Menschen nur 60 oder 80 Prozent arbeiten. Leute, die nicht in einem 100-Prozent-Pensum arbeiten, werden als “schwach”, “faul” oder “zu sensibel” abgestempelt, ohne zu wissen, welche Gründe dahinterstecken.

Können wir also aufhören damit, von jedem Menschen zu erwarten, dass er oder sie zu jeder Zeit voll leistungsfähig und belastbar ist? Es entspricht schlicht nicht der Realität des Menschen, immer produktiv zu sein. Können wir bitte ein wenig den Druck rausnehmen, ständig leistungsfähig sein zu müssen? Es wird Zeit, zu normalisieren, auch mal unproduktiv zu sein.

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