Mit Millionen allein – ein gemeinsamer Spaziergang

Format
Bericht
Lesedauer
3 Minuten
Veröffentlicht am
4. Februar 2021

Corona zwingt das kulturelle Geschehen ins Digitale. „Audiowalks sind eine tolle Nische in dieser Zeit“, erklärt Magda Dorzd (33), Leiterin Theater und Performance am Südpol Luzern. Für das Studimagazin mache ich den frei zugänglichen Audiowalk von Remo Helfenstein und Patrick Müller durch meinen Wohnort Hergiswil und spreche mit den Produzenten.

Anton Kuzema, Philosophy, Politics & Economics

„Das Projekt entsteht komplett aus der Situation heraus“ erklärt mir Patrick Müller (41), ehemaliger künstlerischer Leiter des Südpol Luzern. Zusammen mit dem Luzerner Musiker Remo Helfenstein (39) konzipiert und produziert er den Audiowalk Quando sei solo ci so no milioni con te in Coproduktion mit dem B-Sides Festival und dem Südpol Luzern. Der italienische Titel sei eine impulsive Entscheidung gewesen und bedeutet übersetzt so viel wie: „Wenn du alleine bist, sind Millionen mit dir“.

Stellvertretend für die Millionen sammeln die beiden Familienväter gesungene und erzählende Sprachnachrichten von ihren Bekanntschaften. Entsprechend seiner musikalischen Wurzeln bettet Remo die teils längeren Passagen, teils Sprachfetzen, oder ein aus der Verdichtung der Audiodateien entstehendes Wummern in ein Klanggerüst aus vorwiegend Ambient-Elementen ein. Durch ein dezentes Vocal-Editing und Mastering werden die Notizen zu einer abgerundeten Hörcollage und bleiben dabei trotzdem eine authentische Momentaufnahme.

Das Konzept sieht einen Spaziergang, möglichst durch die Natur vor. Aber warum? Remo erklärt: Der Körper solle zur Reaktion und somit zur Teilnahme angeregt werden. Beispielsweise verstärke eine Anpassung des Lauftempos den Effekt als Erlebnis. Ausserdem solle reflektiert werden, dass es keine Trennung zwischen Natur und Kultur gibt. Das gelingt spätestens dann, als ich einen Kopfhörer aus meinem Ohr herausnehme, um zu verstehen, ob das Stapfen im Schnee von mir kommt oder ob die Sprachnotiz beim Laufen aufgenommen wurde.

Es braucht Reaktion statt Transformation

Der kommerzielle Siegeszug der digitalen Unterhaltungsbranche wird durch die aktuelle Situation noch weiter katalysiert. Aufgrund mangelnder Alternativen gewinnen Streaming-Formate noch mehr an Bedeutung als in den letzten Jahren ohnehin. Laut einem Beitrag des bayrischen Rundfunks, bringt „Corona (…) dem Streaming-Markt und den Mediatheken enorme Abrufzahlen“. Mit den wachsenden Möglichkeiten gewinnen solche Formate aber auch kulturell immer mehr an Relevanz. 

Gleichzeitig befindet sich die performative Kulturszene in der Schwebe. So zumindest das Urteil von Magda Dorzd: Je nach Stand der Produktion würde auf einen spekulierten Aufführungstermin hin geprobt, recherchiert oder Konzepte erstellt. Proben sei im professionellen Rahmen erlaubt, Aufführungen bleiben aber aus. Denkbar sei eine Transformation zum Live-Streaming. „Wir sind ready für Streams, die funktionieren aber vom Konzept her oft nicht“, führt Dorzd weiter aus. Schliesslich würden das Theater und andere Formen darstellerischer Künste von der Möglichkeit zur Interaktion und der Nähe zu den Zuschauenden leben. Funktionieren würden oft nur Projekte, die für eine ausschliesslich digitale Präsenz konzipiert worden sind. Den meisten anderen Projekten würde eine audio-visuelle Darstellung nicht gerecht werden.

Zwischen Straßenfest und Melancholie

„Wir wollten etwas machen, was man sowohl produzieren als auch konsumieren kann“, sagt Patrick. Ob bewusst oder nicht schlagen sie die Brücke zum Mangel an Interaktion. Wenn auch nur mittelbar. Aus Zuschauenden werden Zuhörende.

Das Wegfallen einer sprachlichen Vielfalt durch die Entkopplung vom sozialen System findet Remo beklemmend. Das Projekt soll die vielen Akzentuierungen der Sprache und verschiedenen Sprachfarben transportieren. Die Leitidee ist Musik – das Resultat eine suggerierte Nähe.

Dabei ist der Grad der Beteiligung beim Hören schwankend. Manchmal werde ich direkt angesprochen und manchmal habe ich das Gefühl, dass es gar nicht wichtig ist, ob ich gerade zuhöre.
Auf einem offenen Platz laufe ich zwischen sich unterhaltenden Schulkindern vorbei. Gleichzeitig werden Sprachfetzen schnell hintereinander abgespielt und überlappen sich dabei, als würden um mich herum verschiedene Gespräche geführt werden. Durch die untermalenden Klangelemente fühle ich mich kurz wie auf einem Straßenfest in meiner Heimatstadt Berlin.
Mein nostalgisches Highlight ist aber eine etwas melancholische Interpretation des Liedes „Party Girl“ – von Michelle Gurevich. Die Interpretin erzählt danach von ihrer vergangenen Teenie-Zeit und trifft damit paradoxerweise die Gefühlslage von wahrscheinlich vielen, die jetzt so alt sind, wie sie als Party Girl.

Der Audiowalk steht für insgesamt nur acht Wochen bis zum 26. März 2021 zum Streamen bereit. Denn Remo findet: „Flüchtigkeit ist interessant, es muss keinen Bestand haben“. Eventuell meint er damit auch nicht nur das gelungene Projekt.

Hier der Link zum Stream.

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