Die andere Art zu pendeln

Format
Bericht
Erschienen am
13. März 2023 in der Print-Ausgabe
Lesedauer
2 Minuten

Gemäss der jüngsten Erhebung des Bundesamts für Statistik pendeln rund 4,2 Millionen Schweizer*innen täglich zu ihrer Arbeits- respektive Ausbildungsstätte. Dabei bevorzugen insbesondere die Ausbildungspendler*innen die öffentlichen Verkehrsmittel. In diese Kategorie fällt auch der Tellbus. Die Schnellbuslinie zwischen Altdorf und der Stadt Luzern bietet den Urner Studierenden eine Alternative zum Bahnverkehr und besticht dabei mit einzigartigem Charme.

Text: Elena Arnold, Kulturwissenschaften
Design: Arianna Cambianica, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften

Bereits bei der Eröffnung des Seelisbergtunnels im Jahr 1980 stand die Frage nach einer linksufrigen Verkehrsverbindung zwischen den Kantonen Uri und Luzern im Raum. Doch wie in einem Artikel des Urner Wochenblatts dargelegt, konnte diese Idee nicht gedeihen, da die Berechtigungen fehlten und ein Konkurrenzdenken herrschte. Erst als der Schienenverkehr 2005 aufgrund eines verheerenden Unwetters eingeschränkt war, musste notgedrungen auf Ersatzbusse zurückgegriffen werden. Aufgrund der positiven Reaktionen aus der Bevölkerung wurde aus dieser Notlösung bald ein dauerhaftes Angebot.

Der Tellbus – eine Erfolgsgeschichte

Am Mittwoch, 27. September 2006, fuhr der erste Tellbus von Altdorf nach Luzern. Wenige Tage zuvor wurde diese Schnellbusverbindung gemäss einem Artikel des Urner Wochenblatts mit dem «Golden Creativity Award» von IDEE SUISSE ausgezeichnet. Der Award wurde ins Leben gerufen, um «hervorragende, innovative Beiträge zur nachhal- tigen Stärkung der schweizerischen Wirtschaft» zu würdigen. Laut dem IDEE SUISSE-Präsidenten Olaf Böhme konnte durch die enge Kooperation zwischen der SBB, der VBL AG und der Auto AG Uri ein aus- serordentliches Projekt entwickelt werden, welches nicht nur die institutionellen Hürden, sondern auch die in der Schweiz oftmals festgefahrenen kantonalen Grenzen zu überwinden vermochte.

Im Gegensatz zur damaligen Zugverbindung via Arth-Goldau überzeugte die Route entlang des Vier- waldstättersees mit ihrer deutlich kürzeren Fahrzeit. Obwohl gegenwärtige Bahnlinien wie beispielsweise der Eurocity 156, welcher zwischen Mailand und Basel via Luzern verkehrt, durchaus mit der 45-minütigen Busfahrt konkurrieren können, verlor der Tellbus bei den Urner Studierenden nie an Attraktivität. Neb- st der Schnelligkeit wird insbesondere der Reisekomfort in bequemen Reisebussen sowie die beinahe direkte Durchfahrt von den Tellbus-Pendler*innen geschätzt. Die stetig ansteigende Frequenz der Schnellbuslinie, insbesondere nach den erschwerten Corona-Jahren, unterstreicht dies zusätzlich.

Die Tellbus-Kultur

Nebst dem Reisekomfort und der Schnelligkeit verfügt der Tellbus über eine einzigartige Kultur, die den besonderen Charme der Schnellverkehrslinie prägt. Bevor allerdings die Spezifika dieser Kultur erläutert werden können, lohnt sich eine kurze definitorische Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff, da dieser von einer bestimmten Ambivalenz geprägt ist. Fällt das Wort «Kultur» in einem Gespräch, weiss jede*r worum es geht. Fordert man allerdings das Gegenüber dazu auf, den Begriff zu definieren, so gerät diese*r schnell ins Stocken. Auch die Wissenschaft ist nicht in der Lage, eine abschliessende Definition zu liefern. Jede Forschung, jedes Projekt, jede Arbeit verlangt eine eigens dafür konzipierte Auffassung. Auf die wohl zutreffendste, wenn auch allgemeinste Definition stiess ich in meiner ersten Vorlesung an der Uni Luzern. Meine Professorin Marianne Sommer beschrieb Kultur als «Inbegriff menschlicher Produktivität als Prozesse der interpretativen, kommunikativen und interaktiven Humanisierung der Lebenswelt.» Kurzum: «Kultur» umschliesst und be- schreibt die gesamte menschliche Lebenswelt inklu- sive der menschlichen Aneignung dieser Welt. De- shalb können wir folglich von einer Tellbus-Kultur sprechen.

Die Gruppe der Tellbus-Pendler*innen weist eine niedrige Fluktuation auf. Dies hängt damit zusammen, dass mehrheitlich Ausbildungspendler*innen mit einem fixen Stundenplan auf den Tellbus angewiesen sind. Die daraus resultierende Familiarität vermittelt ein Gefühl der Routine, welches das Leben des Gewohnheitsmenschen ungemein erleichtert. Zugegebenermassen stellen sich diese Gewohnheiten auch in anderen Pendler-Communities ein. Im Tell- bus werden allerdings nicht nur die Weggefährten zu Vertrauten: Auch die Buschauffeure*innen mit ihren zu Beginn jeder Fahrt geäusserten ganz persönlichen Grussworten tragen zu dem Gefühl einer gewissen In- timität bei.

Ein weiteres Merkmal der Tellbus-Kultur sind seine Verhaltensvorschriften. Beinahe alle für diesen Artikel interviewten Pendler*innen betonten die wohl wichtigste ungeschriebene Regel des Tellbus: Am frühen Morgen wird nicht gesprochen. Die äusserst bequemen Sitze laden förmlich dazu ein, den für Studierende oftmals notwendigen Schlaf nachzuholen. Selbst die Buschauffeure*innen nehmen Kenntnis von dieser Regel. Sie gehen teilweise noch einen Schritt weiter, indem sie das Licht löschen, um die Bedingungen für einen erholenden Schlaf zu optimie- ren.

Der Tellbus besticht also nicht nur mit seiner Schnelligkeit und komfortablen Reiseerlebnis, vielmehr verfügt er über eine einzigartige Kultur, die zwar von aussen kaum sichtbar ist, doch von jedem Pendler und jeder Pendlerin geschätzt wird.

Zeen is a next generation WordPress theme. It’s powerful, beautifully designed and comes with everything you need to engage your visitors and increase conversions.