Gehörlose und schwerhörige Menschen sind in unserem Alltag nahezu unsichtbar. Das, obwohl in der Schweiz an die 10’000 Gehörlose leben, die in ihrem täglichen Leben mehr oder weniger auf die Gebärdensprache angewiesen sind. Wie leben und kommunizieren sie, wenn man sich nicht auf die Lautsprache verlassen kann? Lumos sprach mit der gehörlosen Regula Marfurt-Kaufmann.
Reto Walpen, Philosophy, Politics and Economics
Fotos: Jill Oestreich, Kulturwissenschaften
Das Interview mit der gehörlosen Regula Marfurt-Kaufmann ging anders vonstatten, als man es sich als Schreibender gewohnt ist. Masken haben wir keine getragen (aus guten Gründen, wie ihr erfahren werdet). Die Fragen habe ich nicht selbst gestellt, sondern habe sie auf meinem Laptop markiert, damit meine Gesprächspartnerin sie hat ablesen können. Und bei den Antworten musste ich mich schon ein wenig konzentrieren, um sicher alles zu verstehen. Aber von vorne.
Marfurt-Kaufmann erlitt im Alter von 20 Monaten eine Hirnhautentzündung. Seitdem ist sie gehörlos. Heute setzt sie sich als soziokulturelle Mitarbeiterin bei der Beratungsstelle für Schwerhörige und Gehörlose (BFSUG) der Region Zentralschweiz für die Rechte von Gehörlosen ein. In ihrer Funktion als Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit sprach sie mit Lumos über die Deutschschweizer Gebärdensprache, Hindernisse, die sie im Alltag erlebt, und die lebendige Kultur, welche auch Gehörlose pflegen.
«Sprechen»?
Ein paar Tage vor dem Treffen im Büro der BFSUG schwirrten mir einige Fragen durch den Kopf: Wie spricht man mit Gehörlosen eigentlich am besten? Ist «sprechen» überhaupt ein passendes Wort, oder ist das ein wenig unangebracht? Gibt es irgendwelche Fettnäpfchen, die man vermeiden sollte? Wird man mich verstehen, oder wird es unvorhergesehene Sprachbarrieren geben? «Na ja», dachte ich mir. «Als Walliser kennt man sich ausserhalb des Heimatkantons mit Verständigungsschwierigkeiten ja aus.» Wie schlimm kann es also schon werden?
Die Antwortet lautet: Gar nicht. Als Marfurt-Kaufmann an einem kühlen, hochwässrigen Donnerstagvormittag die Türe öffnet, lächelt sie unserer Fotografin Jill und mir freundlich entgegen. Sie zeigt uns das Büro, bietet uns etwas zu trinken an, und bald darauf sind wir auch schon mitten im Gespräch.
Dieses mag für mich als Hörenden ein wenig speziell anmuten, doch von den befürchteten Sprachbarrieren kann kaum die Rede sein, wenn man nur etwas Rücksicht auf die Bedürfnisse des Gegenübers nimmt. Dazu gehört beispielsweise, dass der Mund beim Sprechen gut sichtbar ist, weswegen Masken keinen Platz auf unseren Gesichtern hatten. Die meisten Gehörlosen können so das Gesprochene von den Lippen ablesen und Mimik besser erkennen. Bei der Kommunikation ist das für sie unerlässlich.
Antworten auf meine Fragen gibt mir Marfurt-Kaufmann dann in zwei Sprachen gleichzeitig. Zum einen spricht sie die Lautsprache, welche etwas gebrochen und undeutlich klingt, da sie sich selbst kaum hört. Schon nach den ersten paar Sätzen verstehe ich sie aber problemlos. Zum anderen begleitet sie das Gesprochene immer mit der Gebärdensprache. Hierfür nutzt sie aber nicht nur die Hände, wie man vermuten könnte. Zusätzlich sind starke Mimik und ein deutliches Mundbild äusserst wichtig. Dies gilt für die Deutschschweizer Gebärdensprache noch mehr als für viele andere Gebärdensprachen. Auch wenn Gehörlose unter sich sind, bewegen sie den Mund, als würden sie laut sprechen, um sich gegenseitig das Lippenlesen zu ermöglichen.
Das Problem mit der Maske
So flüssig wie bei unserem vorbereiteten und privaten Setting läuft die Kommunikation für Marfurt-Kaufmann allerdings nicht immer. «Bei euch Hörenden verursachen vielleicht Dialekte, Wörter aus Fremdsprachen oder ironische Bemerkungen Verständigungsprobleme. Wir Hörbehinderte hingegen haben oft Mühe mit ähnlich klingenden Begriffen wie ‹Mutter› und ‹Butter›. Auf den Lippen sieht man da nur ‹utter›.»
Momentan sind aber ohne Zweifel die Masken das grösste Problem bei der Verständigung mit Hörenden, da diese das Lippenlesen vollständig verunmöglichen. Schon wenn das Wort «Maske» fällt, sieht man den Frust in Marfurt-Kaufmanns Gesicht aufkommen: «Für uns gehörlose und hörbehinderte Menschen sind die Masken eine enorme Herausforderung. Wir müssen immer wieder fragen, ‹Können Sie bitte die Maske herunterziehen?›, wenn wir mit jemandem sprechen und die Person verstehen wollen. Das wird aber oft nicht akzeptiert.»
Eine von vielen frustrierenden Geschichten, von denen Marfurt-Kaufmann erzählen kann, geschah im letzten Oktober: «Ich war mit meiner Tochter beim Zoll, wo ich die Beamten immer wieder fragen musste, ob sie die Maske herunterziehen können, weil ich sie nicht verstehe. Immer hiess es, dass das nicht ginge. Meine Tochter half mir dann beim Übersetzen, wofür sie die Maske ablegte, und schon beschwerten sich die Beamten.»
Was die Zöllner*innen anscheinend nicht wussten: Für den Umgang mit Hörbehinderten wurden vom Bundesrat explizit Ausnahmen für das Tragen von Masken formuliert.
Visitenkarten und durchsichtige Masken
Marfurt-Kaufmann und viele andere Gehörlose und Schwerhörige wissen sich in solchen Situationen aber durchaus zu helfen – auch wenn das für die Betroffenen auf Dauer oft mühselig und erschöpfend ist. Man stelle sich vor, man muss vor jedem Gespräch, vor jedem Schwatz darum bitten, die andere Person möge doch so sprechen, dass man sie versteht – was diese dann auch oftmals verweigert.
Dennoch gibt es Hilfsmittel. Eines, welches mir Marfurt-Kaufmann zeigt, ist eine kleine Visitenkarte, welche Gehörlose ihren Gesprächspartner*innen bei Bedarf aushändigen können. Darauf steht kurz, dass man es mit einer hörbehinderten Person zu tun hat, die Bitte, die Maske abzunehmen, und auch die Erläuterung des Bundesrates, dass das erlaubt sei.
Kurioser wirkt da schon die Maske, die ich während des Interviews ebenfalls zu sehen bekomme. In der Mitte des hellblauen, rechteckigen Stückes Stoff hat diese ein kleines, durchsichtiges Plastikfenster, durch welches der Mund sichtbar wird. So funktioniert Lippenlesen trotz Maske.
Aber auch das sei nicht optimal, sagt Marfurt-Kaufmann: «Viele tragen in der Öffentlichkeit doch lieber normale Masken, da die durchsichtigen ihrer Meinung nach zu blöd aussehen. Ausserdem kann ungünstiger Lichteinfall dafür sorgen, dass man wegen der Reflektion doch wieder nichts sehen kann.» Und auch die Kosten sind problematisch: Ein Pack mit 25 Masken kostet knapp 40 Franken.
Unter sich
Bei all den Problemen und Mühseligkeiten, die sich gehörlosen Menschen im Alltag stellen, tut es daher gut, auch einmal unter sich zu sein. Denn Gehörlose integrieren sich nicht nur in die Gesellschaft der Hörenden, sondern pflegen auch untereinander eine aktive und selbstständige Kultur. Das Mitwirken in eigenen Vereinen, wie dem Innerschweizer Gehörlosen- und Sportverein Luzern, bietet sich hierfür genauso an wie verschiedenste kulturelle oder politische Anlässe und Treffen, welche von Gehörlosen für Gehörlose organisiert werden.
Dass heute solch eine selbstständige Gehörlosenkultur überhaupt existieren kann, geht auf die Gehörlosenschulen zurück, welche im 19. Jahrhundert in der Schweiz gegründet wurden. Dort war die Gebärdensprache bis weit ins 20. Jahrhundert offiziell verboten, da sie als primitive «Affensprache» gesehen wurde. Dies hinderte die Kinder jedoch nicht daran, sich ausserhalb des Unterrichts mithilfe von Gebärden auszutauschen. Ihre Sprache entwickelte sich stetig weiter, bis sich die Deutschschweizer Gebärdensprache und deren fünf Dialekte herauskristallisierten. Diese werden heute täglich von tausenden Menschen in der Schweiz genutzt. Genau wie jede andere Sprache.