Ein Beitrag über die Komplexität unserer Umwelt, den Anspruch an soziale Medien und die damit einhergehende politische Diskussionskultur.
Anton Kuzema, Philosophy, Politics and Economics
Die jüngste Zuspitzung des Nahostkonflikts wirft erneut zahlreiche normative Debatten über Schuld- und Berechtigungsfragen auf. Auf diese werde ich in diesem Artikel nicht eingehen, vor allem aufgrund von fehlendem Hintergrundwissen und Expertise. Doch der Diskurs erzeugt ebenfalls eine interessante Nebendiskussion darüber, ob die Darstellung von komplexen Zusammenhängen in den sozialen Medien eine fundierte Grundlage finden kann und welche Akteur*innen daran teilhaben sollten.
So betitelt der Spiegel einen Artikel: „Nahostkonflikt – Was hier passiert ist zu komplex für einen Tweet“ und befeuert damit eine längst überfällige Diskussion darüber, welchen Anspruch wir eigentlich an Plattformen wie Twitter und Co. stellen. Es melden sich zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens – und dazu zähle ich auch Twitter-User*innen mit hoher Reichweite – zu Wort und reklamieren die anmassende Haltung der Konsumierenden. Sie würden regelrecht dazu gedrängt werden, Stellung zu der Situation zu beziehen. Woher kommt diese Haltung?
Du kannst alles sein was du willst, Kind.
Es kursieren im Internet immer wieder Beiträge darüber, inwieweit die Möglichkeit zur Anteilnahme am Diskurs, zu einer Mutation der persönlichen Positionierung im gesellschaftlichen Diskurs führt. In der Pandemie mutieren wir zu Virolog*innen und geleitet durch die Klimakatastrophe zu Klimawissenschaftler*innen. Das Resultat ist die Verwässerung der Expert*innenmeinungen und die zwanghafte Zuordnung zu bestimmten politischen Lagern. Problematisch wird es auch dahingehend, dass eine fundierte Darstellung der Sichtung, Analyse und Beurteilungen von Einflussfaktoren bedarf. Ein Tweet ist in unter einer Minute geschrieben, was unter anderem die Durchschlagskraft der Plattform bedingt. Es gibt keinen Nachrichtensender, geschweige denn Wissenschaftler*innen, die so schnell agieren können, wie ein weltweites Netzwerk aus aufmerksamen Twitter-Jüngern.
Nun scheint es den Impuls für einen Umschwung zu geben: Die betroffenen Personen des öffentlichen Lebens sprechen sich selbst die Expertise ab, die Ihnen ungerechtfertigt zugesprochen wird und verweisen auf Journalist*innen und andere Experten*innen. Es hat also nur einen der historisch komplexesten Kriege gebraucht, um zu reflektieren, dass bestimmte Thematiken den Verständnishorizont von themenfremden Einzelpersonen übersteigen. Weiterhin kommt aber die Beschaffenheit des Mediums selbst erschwerend hinzu.
Hier ein Beispiel:
Wenn ich nun twittern würde, verkürzt, dass „Twitter die Expertise verwässert – und Skills mit einer Krise ersetzt hat“ wäre das nicht nur ein schlechter Tweet, sondern man positioniere mich vermutlich im politischen Kosmos als Gegner sozialer Medien. Dabei wäre in einer anderen Diskussion anzuführen, wie gut Twitter und andere soziale Medien als Sprachrohr für Randgruppen und Minderheiten fungierten. Ich gäbe an, inwieweit die zunehmend aggressive und sensible Haltung in der Öffentlichkeit – wie sie so oft kritisiert wird – gar nicht aggressiver und sensibler wird, sondern in sozialen Medien zurecht ein Medium findet, in dem sie grossflächig kommuniziert werden kann. Diesen Zusatz hätte ich wohl kaum erwähnt, wenn es nicht genau das Thema wäre. Natürlich sind auch Nachrichtendienste, sowie alle am Diskurs teilnehmenden Parteien, voreingenommen und zu einem gewissen Grad einseitig. Im Schlagzeilenmeer Twitter erreicht diese Tatsache aber eben ihren Höhepunkt.
Von Catchphrase zu Catchphrase
Alleine das Format Tweet mit seiner Begrenzung auf 280 Zeichen bedingt eine einseitige und verkürzte Darstellung. Infolgedessen müssen wir uns fragen: Welchen Anspruch stellen wir an die Plattform?
Man sagt, ein lebendiger Diskurs sei das Herzstück einer funktionierenden Demokratie. Auf den ersten Blick scheint Twitter genau das zu generieren, einen offenen Meinungsaustausch zwischen verschiedenen Perspektiven. Doch bei genauerer Betrachtung ist dieser Austausch anfällig für zweckentfremdende Instrumentalisierungen und Verzerrungen in der Meinungsbildung.
Die Verschiebung der Berichterstattung in die Anti-Mainstream-Medien haben sich die etablierten Medienhäuser allerdings selbst zuzuschreiben. Mit der überholten Annahme, dass Seriosität und Sachverstand nicht mit Humor einhergehen können, haben sie besonders Teile der jüngeren Generation schon vor langem verloren. Der Boom von politischen Satire-Beiträgen, sowie mein misslungener Versuch, als Journalist in einem fiktiven Tweet witzig zu sein, belegen zumindest einen gewissen Trend.
Neue und alte Herausforderungen
Es gibt mittlerweile einige treffende Beurteilungen zur Entwicklung des politischen Diskurses in sozialen Netzwerken, als auch bestehende Theorien, welche sich darauf anwenden lassen. In der Panelstudie aus dem 1944 erschienenen Buch „The People’s Choice“ beschreibt Paul Felix Lazarsfeld ein Zwei-Stufen-Modell der Kommunikation in der Meinungsbildung. Dabei gibt es – meist informierte und politisch interessierte – Meinungsführer*innen, welche die politische Positionierung ihres sozialen Umfelds prägen. Dies lässt sich durchaus auf die aktuelle Entwicklung anwenden, mit dem Unterschied, dass das „soziale Umfeld“ der Meinungsführerschaft eine immense Reichweite besitzt und in Konkurrenz mit anderen Meinungsführerschaften tritt.
Das führt dazu, dass sich Meinungen klumpenhaft in Konglomeraten anhäufen, wie eine entstehende Berglandschaft, die tiefe Täler von Inhaltslosigkeit zwischen sich reisst und jeden Hauch von kritischer Distanz in eine Sisyphusarbeit verwandelt. Die entstehenden Hohlräume blockieren fortwährend einen gesunden politischen Diskurs und finden sich im schlimmsten Fall zwischen nur zwei zugespitzten politischen Lagern wieder. Wieviel berechtigte Kritik am Staat geht verloren, weil man nicht Gefahr laufen will, der Absurdität der meisten Verschwörungstheorien zugeordnet zu werden? Soziale Medien sind zwar nicht zwangsläufig der Grund, aber zumindest ein Katalysator für die Entwicklung solcher Verhältnisse. Unter anderem auch, weil vorgebildete Meinungen durch Algorithmen weiter gefüttert werden, anstatt einen ausgeglichenen Diskurs abzubilden.
Die Polarisierung von Meinungen wirkt aber nicht nur beschränkend, sondern liefert auch das Potenzial für Formbarkeit. Wendy Brown beschreibt in ihrem Text „Neoliberalism’s Frankenstein“, wie moderne Kommunikationskanäle schon immer von Populist*innen instrumentalisiert worden sind, um propagandistische Inhalte zu verbreiten. Der Fall Trump zeigt, wie dadurch sogar politische Vormachtstellungen erkämpft werden können und zwingt uns zur Reflexion, welchen Anspruch wir an die Plattformen stellen, die uns vernetzen.
Hier ein Tweet: