Warum Wohnheime gleichzeitig Grenzen schaffen und brechen.
Anton Kuzema, Philosophy, Politics & Economics
Illustration: Laura Kneisel, Kulturwissenschaften
Es ist ungefähr 04:00 Uhr nachts an einem Sonntag, als zwei von uns auf der Kochinsel in einer der Gemeinschaftsküchen rummachen. Bekanntlich reflektieren Fenster fast wie Spiegel das Innere des Zimmers, wenn das Licht an und es draussen dunkel ist. Steht man dazu noch im um die Ecke liegenden Badezimmer und schaut im richtigen Winkel aus dem Fenster, kann man die beiden durch die Reflexion gut beobachten. Beide tragen ein schwarzes T-Shirt und haben in etwa die gleiche Frisur, sodass man nicht einmal sagen kann, wer davon wer ist.
Das Gebäude ist wie eine Hantel mit breiten Gewichten und einem kurzen Griff aufgebaut, sodass man durch die Fenster vom einen Gewicht zum anderen sehen kann. Das besagte Badezimmer befindet sich im Griff und steht somit im rechten Winkel zu den sich an den inneren Ecken der Gewichte befindlichen Küchen. Aus verschiedenen Räumen sehe ich also umherlaufende Bewohner*innen in einer Mischung aus Einblicken ins Treppenhaus, Gemeinschaftsräume, Küchen oder die bewohnten Zimmer. In etwa so, als sähe man immer einen Ausschnitt von einer Ameisenfarm und bewohne sie gleichzeitig.
Als an einem Samstagmorgen, um 7:30 Uhr, der Feueralarm ausgelöst wird, öffnen sich in meiner Wohngemeinschaft alle Türen gleichzeitig und wir laufen geschlossen in Unterwäsche zum Treppenhaus. Dort treffen wir perfekt einrastend die Bewohner*innen der oberen Stockwerke. Wir marschieren im Gleichschritt die Treppen hinunter, wie eine Mannschaft ins Stadion. Später erzählt mir eine ältere Bewohnerin, dass für gewöhnlich nicht mehr als vier bis fünf Leute überhaupt ihr Zimmer verlassen würden. Der Feueralarm im Gebäude reagiert sensibler als Schweizer*innen, wenn man behauptet, dass sie reich sein müssen, weil sie aus der Schweiz kommen. Dadurch steht mittlerweile schon kaum jemand mehr auf, um das Gebäude zu evakuieren. Das Vertrauen in die Gewohnheit drückt die meisten zurück in ihre Kissen.
Wo es Raum für Gemeinschaft gibt
Im Studienraum stehen viele weisse Modelle der Architekturstudent*innen. Eines davon ist ein Modell unseres Gebäudes, in dem es einen Studienraum gibt, in dem ein Modell von unserem Gebäude steht, in dem es einen Studienraum gibt, in dem ein Modell unseres Gebäudes steht, in dem es einen Studienraum gibt. In diesem sitzen dann kleine Figuren immer auf demselben Platz, zum Lernen und Basteln.
Die Striche, die mal die Bereiche des Vorratsregals getrennt haben, verblassen und Öl, Butter und Milch rotieren harmonisch zwischen meinen Mitbewohner*innen, wie die Flocken in einer Schneekugel. Wenn du etwas beiträgst, bist du eine*r von uns. Hoch sollen auch diejenigen leben, die noch das übrige Papier aus dem Verteiler im Badezimmer nehmen, bevor die Putzkraft unser Stockwerk erreicht. Sie dürfen heute Abend am gemeinsamen Tisch das Brot brechen.
Wenn meine Jalousien am nächsten Morgen hochgefahren sind, weckt mich die Sonne in meinem Eckzimmer an der linken Seite des rechten Gewichts. Einen Moment lang gebe ich mich dem trügerischen Schein hin, meine geschlossene Zimmertür grenze mich vom Rest des Gebäudes ab, bis mir meine Genoss*innen aus dem Studienraum durch mein Fenster zuwinken. Nachdem ich einige Wochen lang in der Dunkelheit gelebt habe, entscheide ich mich bei der Wahl zwischen Privatsphäre und Tageslicht immer öfter für Letzteres. Dadurch geht auch das Um- und Ankleiden schneller. Wenn ich nicht weiß, was ich anziehen soll, gehe ich zur Kleider-Tauschbox in der Waschküche. Darin findet man, was jemand gestern getragen hat, oder gibt ab, was ich morgen tragen werde.
Wahrscheinlich ist es 21:00 Uhr an einem Dienstag, wenn der Bier-Pong-Ball in wieder der exakt selben Kurve als erstes in den mittleren Becher prallt. Wenn der Ball vorher einmal auf der Platte aufkommt, darf man einen «Trick-Shot» werfen. Besser wäre allerdings, wenn jemand heute Abend noch das Haus verlassen würde. Die einzige Pilgerstätte ist das fünf Kilometer weit entfernte andere Studierenden-Wohnheim. Manchmal richten wir uns morgens zum Beten danach aus.
Wir sind niemals alleine
Dieser Sog des «Nie-Wieder-Alleine-Sein-Müssens» ist irgendwie beruhigend. Das hauseigene T-Shirt vereint uns wie Soldat*innen unter einer Flagge und die meisten salutieren gerne. Es ist eine Mischung aus neu gewonnener Geborgenheit in einer fremden Umwelt und der immer komfortabler werdenden Gewohnheit, die das alles hier so anziehend macht. Wie die beiden auf der Kücheninsel, verschmilzt hier oft alles zu einer nicht erkennbar zu trennenden Einheit, und selbst die Fenster zeigen dir nachts nicht, was draussen, sondern was drinnen passiert. Wechselnde Mitbewohner*innen simulieren den Bruch der eigentlich offensichtlich wiederkehrenden Tagesabläufe. Die angenehm integrierende Eigendynamik bringt uns im selben Masse einander näher, wie sie uns nach aussen hin abgrenzt.
Irgendwie sind wir, wenn die letzte Person nachts nach Hause kommt und die automatische Tür sich hinter uns verriegelt, nicht ein-, sondern ausgesperrt – aber wenigstens zusammen.
Ironischerweise sitze ich selbst seit Tagen in dem Studienraum mit den wandgrossen Fenstern und geniesse die für mich noch relativ neue Schweizer Ästhetik. Es fühlt sich gleichzeitig schön und fragwürdig an.