Grundlagenprüfungen der wissenschaftlichen Methoden und Statistik waren bis anhin fester Bestandteil des Studiengangs Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften. Mit der neuen Studienverordnung müssen diese Vorlesungen ab Herbstsemester 2020 nicht mehr obligatorisch besucht werden – Anlass zur Freude?
Jennifer Widmer, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften und Luca Keiser, Lucerne Master in Computational Social Sciences
Endlich: Freiheit.
Frei sind die Studierenden in Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften (Socom) neu von den präsenzpflichtigen Übungen freitagmorgens, welche so einige mit wackeligen Beinen und dröhnendem Kopf absitzen mussten.
Frei von der Frustration, welche sich breit machte, als auf den Korrelationskoeffizienten und den Determinationskoeffizienten auch noch der Regressionskoeffizient folgte.
Frei von den schlaflosen, schweissgebadeten Nächten vor den sagenumwobenen Methoden- und Statistikklausuren.
Frei sind sie jedoch auch von jeglichem Grundlagenwissen, welches die Produktion unserer «gesellschaftlichen Fakten»betrifft: Für Socom-Studierende ist nämlich neuerdings nur noch eine von drei Vorlesungen in Statistik und wissenschaftlichen Methoden obligatorisch. Doch erst methodisch-statistische Grundkenntnisse ermöglichen eine kritische Auseinandersetzung mit Daten und Statistiken, welche in Zeiten der Digitalisierung zunehmend von Bedeutung sind. Eine solide Grundausbildung in der wissenschaftlichen Methode ist hilfreich, um verzerrte bis hin zu grundlegend falschen Äusserungen kritisch zu beleuchten. In diesem Sinne stellt sie die Schutzrüstung wie auch das Schwert im Kampf gegen Fehlinformationen dar. Ohne dieses Wissen stehen wir also ganz schön nackt da, in einer Welt, in welcher der Begriff Fake News im Jahr 2017 offiziell im deutschen Rechtschreibduden aufgenommen wurde!
Für diese hier beschriebene Nacktheit gibt es einen Begriff: Statistical illiteracy. Oder auf Deutsch: statistischer Analphabetismus – die Unfähigkeit, Statistiken und Daten verstehen, kritisieren und mit ihnen argumentieren zu können.
Wenn Nacktheit gefährlich wird
Die Auswirkungen des statistischen Analphabetismus sind fester Bestandteil unseres Alltags. «Heute nimmt man nur noch das statistische Endprodukt wahr, ohne zu hinterfragen, wie es genau zustande gekommen ist», erklärt Prof. Dr. Georges-Simon Ulrich, Direktor des Bundesamtes für Statistik. Weiter führt er aus, dass «die Frage, wieso und wie diese Daten erhoben werden und ob sie sich überhaupt miteinander vergleichen lassen, zu wenig differenziert betrachtet wird». Für praktisch jedes Argument lässt sich eine Studie finden, welche dieses zu belegen scheint. Das Wissen darüber, wie einzelne Variablen operationalisiert und verrechnet werden, ist aber für die Beurteilung der Aussagekraft von Statistiken und Studien unabdingbar.
«Zahlen lügen genauso wenig wie Wörter. Die Lügner sind diejenigen, die diese Werkzeuge missbrauchen», erklärt Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund auf Anfrage. Dieser Ansicht ist auch Dr. Stella Bollmann, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik: «Die Bevölkerung muss in der Lage sein, Zahlen einschätzen zu können. Hier ist es nicht nur wichtig, gute von schlechten Statistiken unterscheiden zu können, sondern auch, mit Unsicherheit umgehen zu können.»
Gerade am Beispiel der Corona-Daten sei deutlich geworden, dass mit diesen nicht immer sichere Aussagen gemacht werden konnten. Für viele seien diese Unsicherheiten schwierig zu ertragen gewesen. Bollmann erklärt weiter: «Dies führte dazu, dass sauber erstellte Untersuchungen und Statistiken unglaubwürdig wurden und völlig unbelegte Verschwörungstheorien auf einmal sehr glaubhaft erscheinen.» Ohne statistischen Alphabetismus lässt sich nur schwerlich eine gemeinsame Diskussionskultur etablieren: alle haben irgendwie recht. Entscheidend ist, ein statistisches Bewusstsein zu entwickeln, welches uns dabei hilft, Fehlinterpretationen und -darstellungen von insbesondere öffentlichen Statistiken zu erkennen.
Statistik ist somit ein wichtiger Teilbereich der Datenkompetenz, mit der wir unsere Umwelt beschreiben und besser verstehen können. Korrekt in ihren Kontext gesetzte und kritisch analysierte Statistiken und Studien sind von entscheidender Bedeutung: Die so gewonnenen Erkenntnisse stellen die Grundlage gesellschaftspolitischer Diskussionen dar. Dr. Monique Lehky Hagen, Co-Initiantin der Kampagne «Data Literacy Schweiz» hält fest, dass «Datenkompetenz seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine zunehmend unerlässliche Ressource für die Weiterentwicklung unserer Forschung» geworden ist. Ausserdem sei sie auch für politische sowie strategische Entscheidungen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft immer weniger entbehrlich.
Die Demokratie in Gefahr?
In diesem Zusammenhang übernehmen die Medien eine zentrale Funktion. Sie sind eine der Hauptinformationsquellen gesellschaftlichen Wissens. Besonders die direkte Demokratie der Schweiz stellt mit ihren häufigen Abstimmungen hohe Anforderungen an die Medienschaffenden und deren Rolle als Informationsvermittler*innen. Sie übernehmen eine Filterfunktion und sorgen im Idealfall dafür, dass wir uns nicht im täglich produzierten Informationswirrwarr verlieren. Schliesslich ist eine gut informierte Bevölkerung eine der tragenden Säulen einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft.
Damit Medienschaffende diese Funktionen erfüllen können, sind methodisch-statistische Kenntnisse erforderlich. So argumentiert Lehky Hagen: «Wenn Medienschaffende mit Daten nicht umzugehen wissen, können sie ihrer Rolle in der Gesellschaft nicht gerecht werden.»
Zu glauben, Socom-Studierende – und damit potenzielle Medienschaffende – würden sich die mit Vorurteilen und Versagensängsten behafteten Methoden- und Statistikvorlesungen freiwillig antun, ist wenig realistisch. «Eine gesellschaftlich so dringend nötige Kompetenz der Freiwilligkeit zu überlassen, lässt sich schwer mit der Übermittlung von Datenkompetenz vereinen, die die Gesellschaft von universitären Institutionen erwartet», so Lehky Hagen.
Kurzum, wir brauchen Socom-Abgänger*innen mit Statistik- und Methodenkenntnissen, um Fehlinformationen abzufangen, bevor diese durch die Medien in die Gesellschaft gelangen. Ebenfalls brauchen wir eine Bevölkerung, welche im Stande ist, Daten und Studien selbstständig auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Andernfalls gefährden wir die Grundlage einer funktionierenden Demokratie.