Bald wird die 3. Phase des Exit-Plans umgesetzt und es kehrt etwas Normalität in die Schweiz zurück. Doch was wird sich im gesellschaftlichen Miteinander langfristig verändern? Geraten der Händedruck und der Hipsterbart ausser Mode? Der Dozent für Soziologie an der Universität Luzern, Roman Gibel, hat auf diese und andere Fragen rund um die langfristigen Veränderungen durch das Coronavirus «ad hoc» geantwortet.
Nora Baltermia, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften (Text)
Noemi Wolf, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften (Illustration)
N.B: Händeschütteln war in den letzten Jahrzehnten ein Zeichen von Höflichkeit und Respekt. Heute ist es jedoch fast schon ein Zeichen von Unverschämtheit und bringt das Gegenüber in Verlegenheit, weil es «nicht hygienisch» ist. Hat der Händedruck ausgedient, weil er nicht mehr hygienekonform ist oder ist dieses Begrüssungsritual nur kurzfristig de-institutionalisiert?
R.G.: Eine mögliche Formel zur Erkennung sozialer Institution folgt der negativen Dialektik Heidegger’s. Demnach fallen uns Institutionen, also nicht hinterfragte Praktiken, Symbole und Muster, erst auf, wenn sie nicht mehr sind. Der Händedruck als Begrüssungs- und Abschiedsritual ist also vielleicht tatsächlich gefährdet, zumal er ohnehin nur noch in spezifischen Situationen wie zum Beispiel beim Kauf eines Gebrauchtwagens oder einer Preisverleihung zum Einsatz kam. Leute, die es sich erlauben können, verzichteten hingegen schon vorher aus Statusgründen auf den Händedruck.
Was wären denkbare Alternativen? Etwa der «Ellbogen-Shake» oder bleibt es vielleicht bei einer sprachlichen Begrüssung?
Mit Blick auf die Hygiene fand eine Studie 2014 heraus, dass der Bazillenübertrag bereits bei einem High Five viel kleiner ist als beim Händeschütteln. Noch besser schneidet der Fist Bump ab. Bereits Barack Obama wusste das scheinbar und hat die entsprechende Hygienemassnahme wahlkampfwirksam umgesetzt.
Auch soziologisch betrachtet gibt es keinen Grund, dem Händedruck nachzuweinen. Viele Kulturen kennen Begrüssungs- und Abschiedsformeln, die den versteiften Händedruck locker in den Schatten stellen. Beispielsweise die Papua, die sich gegenseitig am Bart kraulen (schwieriger für Frauen und Kinder!) oder die Inuits, die Nase an Nase reiben.
Gleitzeit und «open office» sind bereits kalter Kaffee. Ist Home-Office die neue Arbeitsform, die sich dank Corona durchsetzt? Oder bekommt dieses Arbeitskonzept durch Corona vielleicht sogar eher einen negativen Anstrich?
Es gibt eine breite Literatur zu Krisen, Katastrophen und exogenen Schocks und ihre Wirkung auf Gesellschaften. Erstaunlich ist, wie schnell in solchen Zeiten Umdeutungen und Re-Evaluierung stattfinden. In Corona-Zeiten ist der high performing Manager, der auch mit einem Schnupfen zur Arbeit geht, ein gemeingefährlicher Egomane. Analog dazu verliert das Home-Office seinen Ruf als Arbeit getarnte Freizeit und wird ein weitverbreitetes ernstzunehmendes Arbeitsmodell. Dank digitalen Techniken weiten sich panoptische Züge aus dem Grossraumbüro neu auch in die Wohnzimmer aus, so dass sich bald wieder alle das Büro zurückwünschen.
«Blind Dates» via Plattformen wie Tinder & Co bringen fremde Menschen in Kontakt. Doch in Zeiten von Corona und «Social Distance» gilt die Regel «Traue keinem Fremden». Was dürfte das für Auswirkungen auf das Dating von Unbekannten haben?
Georg Simmel unterscheidet in seinem Klassiker aus dem Jahr 1908 den Fremden vom Wandernden als denjenigen, der heute kommt und morgen bleibt. Da dies bei Dating-Plattformen wie Tinder auch vor Corona-Zeiten nicht zwingend zutreffen musste, also durchaus gewandert wurde und wird, wird sich diesbezüglich wohl nicht viel ändern. Neu kommt allerdings eine zunehmende Graphik- und Datengeilheit hinzu, die sich bereits in der gehobenen Online-Berichterstattung abzeichnet. Gut möglich also, dass Tinderprofile künftig nicht mehr aus Bildern bestehen, sondern aus tollen Hockeyschläger-Kurven und Netzwerkvisualisierungen.
Und welchen Einfluss dürfte der Lockdown und das Schliessen von Bars & Clubs auf die Dating-Situation haben. Folgen auf Corona vielleicht die «Hunger Games»? Oder etwas weniger zugespitzt formuliert: Haben Singles ein umso stärkeres Bedürfnis, die verpassten Dates zu kompensieren?
In der Organisationsforschung beschreibt das Phänomen der Hyper-Organization «übertriebene» Reaktionen von Organisationen auf Umwelterwartungen, um generell legitim zu erscheinen und sich vor Rechtfertigungen zu schützen. Wenn man dieses Phänomen auf Singles überträgt, ist es vorstellbar, dass es in Bars und Clubs künftig von Hyperdates wimmelt, die sich durch höhere Gesprächstempi und Lautstärke auszeichnen, also irgendwie übertrieben sind. Es wäre aber übertrieben zu sagen, die Rationalisierung von Dates sei ein Effekt des Covid-Virus’. Das läuft schon viel länger.
Bleiben wir bei der Kompensation: Dürfte sich ganz allgemein eine Kompensation des sozialen Kontakts einstellen oder haben sich die Menschen vielleicht eher daran gewöhnt, die sozialen Kontakte zu reduzieren?
Mark Granovetter hat 1974 festgestellt, dass vor allem schwache Beziehungen, also zum Beispiel lose Bekanntschaften über ein paar Ecken, bei der Jobsuche helfen. Mit Blick auf die drohende Rezession dürfte es deshalb nicht ratsam sein, die sozialen Kontakte zu reduzieren. Vielleicht helfen ja Hyperdates.
Während der Stosszeiten sassen die Menschen im ÖV teilweise fast aufeinander statt nebeneinander und von 2 Meter Abstand hätte man nicht zu träumen gewagt. Kehrt diese Situation zurück oder ertragen wir in Zukunft die Nähe von so vielen fremden Menschen nur noch mit Desinfektionsmittel und Maske?
Der Interaktionssoziologe Erving Goffman würde die Frage anders stellen: Welche Gruppe wird künftig stärker stigmatisiert? Diejenigen mit Maske oder die ohne? Welche Gruppe sich durchsetzen wird, ist komplett offen. Klar ist aber, dass das verbreitete Maskentragen den Tod für Hipster-Bärte bedeuten würde.
Literatur
Bromley, Patricia; Meyer, John W. (2015): Hyper-Organization. Global Organizational Expansion. Oxford University Press: Oxford.
Goffman, Erving (2018 [1967]): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 24. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Granovetter, Mark S. (1974): Getting a Job: A Study of Contacts and Careers. The University of Chicago Press: Chicago.
Mela, Sara; Withworth, David E. (2014): The fist bump: A more hygienic alternative to the handshake. In: American Journal of Infection Control, 42, 916-917.
Simmel, Georg (1908): Exkurs über den Fremden. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Duncker & Humblot: Berlin, 509-512.