Léonie Hagen, Philosophy, Politics & Economics
Zwei Wochen sind die ersten grossen Lockerungen nun her. Wo vor Kurzem noch die unreflektierte Panik sass, thront jetzt das rückblickende Urteil. Einschätzungen zur Wirksamkeit der Massnahmen häufen sich in den Medien, auf sozialen Netzwerken, am Familientisch. War die Pandemie nur halb so schlimm?
So berechtigt diese Frage ist, so witzlos ist die Antwort: Wir wissen es nicht. Die Frage setzt nämlich voraus, dass die Krise vorbei sei. Dumm nur, dass wir das nicht beurteilen können. Die Datenlage ist bis heute schlicht nicht aussagekräftig genug.
Zwar lassen sich – wie etwa in dieser viel zitierten Studie – Trends für die Effekte einzelner Massnahmen nachzeichnen. Auch Spekulationen aufgrund früherer Pandemieverläufe sind möglich. Aber selbst diese Analysen sind mit Vorsicht zu geniessen. Warum?
Erstens, weil über die Krankheit selbst immer noch sehr unterschiedliche Beschreibungen zu Verlauf, Dauer, Ausbreitung, Ansteckung und Heilung bestehen (surprise, das Virus ist immer noch relativ neu). Zusätzlich variieren die Mess-, Test- und Meldeverfahren bereits auf nationaler Ebene, geschweige denn zwischen verschiedenen Ländern. Datenanalysen, welche Ländervergleiche vornehmen, beruhen daher auf unterschiedlichen und weit reichenden Annahmen, was ihre Aussagekraft weiter schwächt. Bisher liegen auch noch keine Ergebnisse anhand von repräsentativen Stichproben vor, welche fundierte Aussagen zu Ansteckungen, Verbreitung und Krankheitsverläufen für die Gesamtpopulation zuliessen.
Damit nicht genug: In der obigen viel zitierten Studie wird etwa angenommen, dass sich jede Veränderung in der Fallzahl durch ergriffene Massnahmen erklären lasse. Aber was, wenn die erste Welle aus virus-inhärenten Gründen abgeflacht wäre, ähnlich wie bei einer Grippewelle? Dann liesse sich zwar über den Sinn und Zeitpunkt der Massnahmen diskutieren, aber noch nicht über den weiteren Verlauf der Pandemie. Denn auch wenn die Ansteckungsrate nun gesunken ist, ist die Krankheit Covid-19 davon noch lange nicht verschwunden.
Ob Panikmache oder berechtigte Vorsicht, strategisch befinden wir uns immer noch im Blindflug. Der politische Alltag ist wieder eingekehrt, und die Beschlüsse bleiben genau das: politische Entscheidungen. Jeder Versuch, diese als evidenzbasiert darzustellen oder «objektiv» zu bewerten, leugnet die Unsicherheit, welche weiterhin besteht – und zeugt von einem erschreckenden statistischen Analphabetismus.
Zum Weiterlesen:
Eine leicht verständliche Zusammenfassung der bisherigen Forschungsfragen, Erkenntnisse und Schwierigkeiten gibt’s bei Quarks.
Szenarien zu Epidemie-Entwicklungen führt die Republik auf.
Statistiker*innen deuteten schon früh auf die Gefahren der Anmassung von Wissen ohne aussagekräftige Daten hin. Ein Beispiel dazu findet ihr hier.
Einen kurzen Überblick zur Dokumentation der Verbreitung des Virus in der Schweiz sowie eine Übersicht zu den verschiedenen implizierten Forschungsgebieten gibt die ETH Zürich.