Alle Jahre wieder! – flammt im Februar während einigen Tagen eine hitzige Diskussion um Rassismus auf: Es ist Fasnachtszeit. Schweizweit erfreuen sich Medien Jahr für Jahr über aktuelles und lokales Material und küren die umstrittensten oder explizitesten Protagonist*innen mit der Frage: Wie weit darf die Narrenfreiheit gehen?
Jonathan Biedermann (Text & Bilder) und Léonie Hagen (Text)
Philosophy, Politics and Economics (PPE)
Wie überall und jedes Jahr stellen auch wir uns diese Frage. Um das klarzustellen: Die Antwort liefern wir nicht. Im Gegenteil. Wir werfen noch mehr Fragen auf! Und Sie, werte Leser*innen, fordern wir zum Mitdenken auf. Nach einem Aufriss der Thematik “Rassismus an der Fasnacht” auf drei Ebenen widmet sich der zweite Teil nun drei daraus resultierenden Fragen.
1. Wann ist etwas rassistisch und warum?
Obwohl die Vorherrschaft sogenannt westlicher (bzw. zentraleuropäischer) Traditionen unseren Alltag prägt, tun wir uns damit schwer, einen objektiven Massstab für Rassismus festzulegen. Entsprechend greifen wir auf subjektive Wahrnehmungen zurück. Hier «scheiden sich die Geister»: Auf der einen Seite steht die verkleidete Person mit ihrer (schwer feststellbaren) Absicht, auf der anderen die Mitglieder der von Diskriminierung betroffenen Bevölkerungsgruppe mit ihrem Empfinden, erneut diskriminiert zu werden.
Das erschwert die Beurteilung eines «so war das doch nicht gemeint!» – wenn eine Aussage etwa nicht rassistisch motiviert war, aber als solche empfunden wird. In diesem Fall findet vordergründig eine Trennung der Fasnächtler*in von ihrem Kostüm statt: Die Verkleidung löst in einem Teil des Publikums eine Diskriminierungserfahrung aus, derer sich die Darstellende zuvor allerdings nicht bewusst ist. Nun gehen wir aber davon aus, dass diese nichtsahnende Fasnächtler*in mit der Empfindung eines Betroffenen konfrontiert würde. Es findet ein (je nach Person mehr oder weniger intensiver) Austausch statt. Der Verkleideten wird grundsätzlich bewusst, dass ihr Verhalten bei Anderen Unverständnis und Verletzung auslösen kann. Sie kann sich nun auf den Austausch einlassen, oder sich dazu entscheiden, die Vorwürfe zu ignorieren.
In letzterem Fall wird die Freiheit der Betroffenen, nicht diskriminiert zu werden, bewusst nicht beachtet – vielleicht auf besonders provokative Weise. Dann werden oft auch Nichtbetroffene auf den geäusserten Rassismus aufmerksam; gerade, wenn er auch ausserhalb der Fasnacht mit einer politischen Haltung verknüpft ist – so z.B. bei einer Gruppe Schwyzer Fasnächtler, welche sich 2019 als Ku Klux Clan verkleideten.
Unklare Grenzen erschweren klare Urteile
Doch die Grenzen lassen sich nicht immer so klar zeichnen. Insbesondere an der Fasnacht, die von der Übertreibung und der Verwendung von Klischees lebt. Die Darstellung
«wilder» Völker, welche zur fünften Jahreszeit umgangssprachlich offenbar das Land übernehmen, nutzt Vorurteile als Mittel zur Darstellung des Fremden. Sie betreibt somit klassisch abwertendes Othering.
An der Fasnacht fliesst aber noch ein zweiter Aspekt in die Verwendung rassistisch empfundener Imagerie ein: Satire. Die sogenannte Narrenfreiheit erlaubt auf den ersten Blick jeden noch so bösen Vers, um mit dem Finger in den offenen Wunden des vergangenen Jahres zu stochern. So sind Klischees und Übertreibungen etwa zur Verdeutlichung der bitteren Fasnachtssprüche und Mottos unerlässlich. Die stereotypen Bilder werden allerdings weniger zur Darstellung des Anderen verwendet als vielmehr selbst zum dargestellten Gegenstand, der provozieren darf und soll. Fragt sich nur: wie weit reicht die Freiheit, solche Bilder satirisch zu verwenden?
2. Wie viel darf Satire – wie viel Provokation hält die Narrenfreiheit aus?
Ob allein oder in der Gruppe, Kostümierungen und Darstellungen erlauben eine Distanz zwischen der eigenen Person bzw. Haltung und dem Dargestellten. Das Dargestellte lebt dabei gerade von Klischees und Übertreibungen, die die Verkleidung als solche kennzeichnen. Ein Kostüm, das nicht als solches erkennbar ist, würde eine Totalidentifizierung bedeuten, die an der Fasnacht nicht gesucht wird. Die kurzzeitig hergestellte Distanz schafft Raum für Kritik an gesellschaftlichen Strukturen und den Menschen, welche sie bestimmen. Diese Kritik geschieht wiederum im Schutz der Narrenfreiheit durch überspitzte Darstellungen und Provokation.
Die Fasnacht kann somit gesellschaftlich und politisch relevante Funktionen erfüllen, welchen Obrigkeiten seit jeher ambivalent gegenüberstanden. Einerseits die Ventilfunktion, welche die Gesellschaft und ihre Strukturen langfristig stabilisiert, indem sie ihre Ordnung für kurze Zeit ausser Kraft setzt. Andererseits aber die Kritik an Machthalter*innen, welche zu einer bewussten Forderung nach Veränderung umschlagen kann. Nicht umsonst wurde die Fasnacht zu Zeiten der Helvetik von französischen Behörden immer wieder verboten.
Darf Satire alles?
Nun liesse sich sagen, dass Satire bereits eine bewusste Auseinandersetzung mit den bedienten Klischees voraussetze und somit trotz der Verwendung diskriminierender Aspekte nur schwerlich rassistisch sein könne. Satire dürfe nun einmal alles. Aber die Auseinandersetzung mit den Klischees selbst bedeutet noch nicht zwingend, dass wir auch unsere eigene Meinung in Bezug darauf reflektieren. Gerade ein kolonialer Blick auf andere Völker, wie in den Kindertagen der modernen Fasnacht, kann so tief verankert sein, dass ein kritisches Hinterfragen schwer fällt. Ausserdem: Warum sollte man das ausgerechnet im lauten Getümmel der Fasnacht tun?
Als Fest des «wilden» Exzesses setzt die fünfte Jahreszeit die Ordnung einer Gesellschaft kurzfristig (und oberflächlich) ausser Kraft. Diese Umkehrung der sozialen Hierarchie wird aber klar als Ausnahmezustand mit Chaos und «Wildheit» konnotiert – und bestätigt so ironischerweise die Richtigkeit der bestehenden (kritisierten!) Ordnung.
Wird Letztere aber an einem Umzug bewusst nicht ausser Kraft gesetzt, kann das zur Reflexion über diese Vormachtstellungen anregen. So stellten die «Basler Bebbi» an der letztjährigen Fasnacht eine Völkerschau dar, wie sie im städtischen Zoo bis in die 30er Jahre üblich waren; inklusive Kolonialanzüge und Masken, welche an afrikanische Stämme erinnern sollten – im fahrenden Käfig. Die bewusste Darstellung dieser Bilder als Stereotype ist eine Provokation, die sich klar rassistischer Klischees bedient. Gleichzeitig versucht die Darstellung der Klischees, diese als solche auszuweisen und damit die Distanz zur eigenen Meinung hervorzuheben. Dadurch regt sie bewusst zur Debatte an.
Satire darf alles – alles was mehr als plumpe Provokation ist
Insofern meint Kurt Tucholskys berühmt-berüchtigtes Zitat durchaus, dass Satire alles darf. Dabei drängt sich aber auch der zweite Teil seiner Aussage auf: Sein Verständnis von Satire als Gesellschaftskritik. Plumpe Provokation um der Provokation willen gehört also nicht dazu. Solche Provokation kann, wenn sie rassistisch wird, nicht mehr mit der Freiheit der Satire begründet werden. So lehnt auch der Schweizerische Fasnachtsverband (Hefari) in seinem Abriss zur Fasnachtskultur dar, dass Diskriminierung gegen bereits diskriminierte Gruppen nicht toleriert werde: «Von seinem Rügerecht Gebrauch zu machen, gehört zum Rollenbild des Narren. Humorvolle Kritik aus Narrenmund an den Narreteien des Alltags, die auf das Konto mehr oder weniger prominenter Zeitgenossen gehen, ist integraler Bestandteil der Fasnacht. Verletzende Attacken auf Wehrlose, Hohnlachen von Mehrheiten über Minderheiten, sind hier fehl am Platz.»
Doch auch hier sind die Grenzen des Tragbaren nicht immer klar. Wie «verletzend» darf eine Aussage sein, inwiefern ist sie Teil der Gesellschaftskritik und woran können wir die Intention der Darstellenden wirklich feststellen? Die «Basler Bebbi» wurde etwa trotz sehr expliziter Erklärungen im beigelegten «Zeedel» («D Tradition sott mit dr Zytt goo, au wenn das haisst gwissi Sache z’begraabe, denn es bruucht jedi ainzelni Stimm zem klar NAI zue Rassismus z’saage!») ebenfalls des Rassismus innerhalb ihrer Darstellung bezichtigt.
Erkennbarkeit der Satire ist relevant
Zusätzlich schwierig wird es, wenn die Distanz zwischen selbsternannt «satirischer» Darstellung und politischer Meinung verschwindet. Wenn Jugendliche mit rechtsradikalem Gedankengut eine KKK-Maske zur Fasnacht tragen, wird aus Satire eine persönliche Einstellung, welche dargestellt oder gar verherrlicht wird. Auch hier gilt die Narrenfreiheit nicht mehr: So wurden die besagten Schwyzer Fasnächtler aufgrund von Verherrlichung rassistischer Ideologie verurteilt.
Es lassen sich also durchaus Grenzen der Satire denken. Aber wer bestimmt die Grenzziehung im Raum der Narrenfreiheit? Inwiefern verändert sich diese Grenzziehung mit gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen? In welchem Verhältnis stehen diese Grenzen sie dann zu den Traditionen einer Gesellschaft – und wie gehen wir im öffentlichen Diskurs damit um?
3. Wie kritisch wollen und können wir unsere Traditionen hinterfragen?
Wer Grenzen des Tolerierbaren festlegen will, kommt an einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Tradition nicht vorbei. Wie kann diese Auseinandersetzung stattfinden – und wie kritisch kann und sollte sie sein?
Traditionen sind geschichtlich gewachsen und eng mit unserer Kultur verbunden. Was aber, wenn eine Tradition formell besteht, aber mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel eine andere Bedeutung erhalten hat? Wenn z.B. ein Logo (wie das der «Negro-Rhygass») mit dem Kostüm und den Sujets der Clique nichts zu tun hat, somit von seiner ursprünglichen Bedeutung gänzlich losgelöst wäre – ist es dann nicht mehr rassistisch, wenn es aus geschichtlichen Gründen beibehalten wird? Oder muss es dann trotzdem neu aufgearbeitet werden?
Wenn eine Stadt sich – gemäss eigenen Angaben aus Witz und politischer Rivalität – zur Fasnacht traditionell einen anderen Namen gibt (z.B. «Brig-Mekka» oder «N»Egerkingen); wie viel schwingt von der rassistischen Bedeutung mit? Und was passiert, wenn wir uns diese Fragen gar nicht erst stellen und diese Bräuche einfach weitertragen?
Den Blick auf den gesellschaftlich verankerten Rassismus richten
Denn einfach aus Prinzip ausradieren lassen sich diese Eckpfeiler der fünften Jahreszeit nicht: Das wäre in etwa so unkritisch und zielführend für ein Bewusstsein für den allgegenwärtigen Rassismus, als hätte man die Bräuche so weitergeführt. Ebenso wenig zielführend wäre ein Shitstorm gegenüber einzelnen Gruppen und Namen, wenn er zur Verhärtung zweier Fronten führt.
In Bezug auf #metoo mag der mediale Eklat zu einem härteren öffentlichen (und rechtlichen) Urteil gegenüber Harvey Weinstein geführt haben; das ist aber nicht der einzig mögliche Ausgang. Wenn in unserem Beispiel von einer Seite die politische Korrektheit um jeden Preis gefordert und von der anderen die grenzenlose Narrenfreiheit skandiert wird, wird dies der Komplexität des Phänomens nicht gerecht. Zusätzlich verunmöglicht es einen konstruktiven Dialog über das tatsächliche Problem: den gesellschaftlich verankerten Rassismus.
Ein konstruktiver Diskurs setzt die Anerkennung von Diskriminierungserfahrung voraus
Gerade weil diese Fasnachtstradition für die eigene und kollektive Identität so wichtig sein kann, müssen die Emotionen und Ressentiments der Beteiligten zumindest anerkannt werden. Fehlt dieses Bewusstsein für die durch rassistische Darstellungen ausgelösten Spannungen, kann es gar nicht erst zum Gespräch kommen. Findet allerdings ein gegenseitiger Austausch statt, resultieren daraus Vorschläge und Kompromisse, die durchaus eine kritischere Beurteilung der eigenen Tradition verkörpern.
So zum Beispiel bei der Basler « Negro-Rhygass»: «Die Vorkommnisse rund um das Logo [eine paukenspielende, spärlich bekleidete schwarze Figur mit einem Knochen im Haar] haben den Verein erschüttert», heisst es in einer Pressemitteilung von 2018. Sie hätten sich nach dem medialen Aufruhr eingehend mit ihrem Logo und ihrer Cliquengeschichte auseinandergesetzt, auch unter Einbezug von externen Fachpersonen. Der erarbeitete Kompromiss (keine offizielle Verwendung des Logos, aber auch keine Verbannung) ist kritisierbar – zeigt aber, dass eine Reflexion über Rassismus innerhalb der Fasnachtsgesellschaften durchaus möglich ist.
Ähnliches zeigt der Diskurs zwischen den verschiedenen Garden in anderen Fasnachtscliquen: Nachdem die Alte Garde der «Alten Stainlemer» etwa ein rassistisches Sujet präsentiert hatte, distanzierten sich die Jungen und der Stamm derselben Clique in einem öffentlichen Schreiben davon und von jeglicher Form rassistischen Gedankengutes.
Zur Tradition gehört Veränderung
Auch auf der Ebene der Fasnacht als Brauch wären Veränderungen denkbar. Traditionen sind nicht unveränderlich: Im Gegenteil, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben unsere Bräuche auch an der Fasnacht geprägt und verändert. So war es in den Anfängen der Strassenfasnacht aus Angst vor der Säkularisierung und Entmachtung der Kirche noch streng verboten, biblisch konnotierte Sujets darzustellen – heute sind Nonnen und Mönche zur fünften Jahreszeit kein seltener Anblick.
Natürlich geht es mit der Kirche um eine mächtige und privilegierte Gruppe in der Bevölkerung, die sich mit diskriminierten Minderheiten nicht wirklich vergleichen lässt. Diese Entwicklung zeigt aber, wie sich veränderte Auffassungen der Machtverhältnisse in den Darstellungen an der Fasnacht spiegeln.
Veränderung bedeutet aber nicht nur, dass alte Traditionen von neuen ergänzt oder ersetzt werden. Im Diskurs entscheiden wir nicht nur, welche Traditionen beibehalten werden und warum, sondern auch, welche Aspekte der Tradition betont werden sollen.
So fordert etwa das «Manifest zur Rettung der Luzerner Fasnacht» der Kult-Ur-Fasnächtler*innen aus dem Jahr 1993 (!) eine Besinnung auf Kreativität und Vielfalt im Sinne der «traditionellen Lozärner Fasnacht». Während in diesem Kontext noch keine explizite Reflexion über rassistische Motive erfolgt, zeigt dieser Aufruf, dass Tradition nicht nur eine Lesart hat. Wenn wir uns damit beschäftigen, müssen wir uns auch an die Aspekte erinnern, welche mit der Zeit vielleicht in den Hintergrund gerückt sind.
All diese Beispiele zeigen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Fasnacht, Diskriminierung und den Aspekten der Narrenfreiheit aufwendig ist. Sie erfordert Zeit und Ressourcen, löst Emotionen aus, führt oft nicht zu eindeutigen Antworten – ist jedoch möglich. Natürlich steht und fällt die Lösung des gesellschaftlich verankerten Rassismus-Problems nicht mit ein paar Kostümen an der Luzerner Fasnacht; ein struktureller Wandel muss auch an den anderen 360 Tagen des Jahres stattfinden. Vielleicht bietet aber gerade die Fasnacht mit ihrem breit gefächerten Publikum und ihrer Narrenfreiheit Raum, um ein Bewusstsein für diese Probleme zu schaffen.