Kopfhörer in den Ohren. Den Blick auf die Ampel. Ich muss nur die Strasse überqueren. Ich sehe, dass er mich gesehen hat, und ich weiss, er wird mich aufhalten. Und mit mir sprechen.
Amina Heusser, Rechtswissenschaften
Innerlich lege ich einen Schalter um: Meine Empathie ist aus. Man kann nicht allen helfen, sage ich mir und rechtfertige mich gleich darauf vor mir selber: Genau darum studiere ich ja, um für soziale Probleme eine Lösung zu finden. Mit diesen Gedanken versuche ich mich davon zu überzeugen, dass ich ein Recht darauf habe, diesem Mann, der wahrscheinlich beim Bahnhof schläft und nichts anderes als seine Winterjacke besitzt, nicht helfen zu müssen.
«Hättet Sie mir grad’s paar Räppli?», unterbricht er meinen Gedankenfluss. Er sieht schmutzig und krank aus, seine Haare wurden wahrscheinlich seit Wochen nicht gewaschen und seine Zähne nicht geputzt.
«Es paar Münzli si gnueg! Weisch, eifach zum ä chli öppis ässe!»
«Mi scusi… non parlo tedesco.»
Es kommt automatisch aus mir raus. Ich möchte das nicht sagen, möchte nicht leugnen, dass ich ihn verstehe. Aus Anstand. Jedoch scheint mir dies die annehmbarste und – vor allem für mich – gemütlichste Lösung.
«Ah ma parli italiano? Da dove vieni?»
So hat mein Gespräch mit Luca angefangen. Er sei schon seit zehn Jahren in Luzern, jedoch ginge es ihm letztens nicht so gut, erzählt er mir, während ich auf der Tafel kontrolliere, an welcher Kante mein Bus fährt. Napoli, er komme aus Napoli. Nein, antworte ich, ich sei nicht Italienerin, ich komme aus dem Tessin. Ja klar, entgegnet er, da spricht man italienisch, obwohl es in der Schweiz liegt. Was ich in Luzern tue?
Mein Bus fährt erst in 15 Minuten. Ich schaue Luca an, er wartet. Worauf bloss? Ach ja. Auf meine Antwort. Ich schaue auf mein Handy, habe die Kopfhörer noch im Ohr. Und plötzlich, während mich das Licht des Bildschirms blendet, frage ich mich: Was ist falsch mit mir? Amina, denke ich, da spricht ein Mensch mit dir, und du, du schaust auf dein Handy. Nimmst die Kopfhörer nicht mal raus. Während ich sie zusammen mit dem Handy in meine Tasche lege, antworte ich, dass ich hier studiere, eine Wochenaufenthalterin sei. Das würde ihm auch gefallen, sagt er und lacht schallend. Er würde auch gerne jedes Wochenende nach Hause fahren. Nein, eigentlich nicht, schiebt er nach, denn die Dinge liefen hier wirklich besser. Jedoch könnte er dann zumindest seine Familie öfters sehen, und weniger kalt sei es in Napoli auch, und zwar deutlich. Er habe eine Cousine in meinem Alter, was sie genau tut, wisse er nicht mehr. Trotz der Kälte mache es am Bahnhof eigentlich Spass, da hängen Freunde von ihm herum. Komme man am Bahnhof vorbei, seien fast alle hier. Mindestens jeden zweiten Tag, und das könne er mir garantieren, treffe er hier auf seine beiden besten Kollegen. Er erzählt weiter und ich höre zu. Er ist witzig, und plötzlich lache ich mit ihm. Von Herzen, nicht aus Anstand.
Dann kommt mein Bus. Luca winkt mir zu, lächelt und ruft «Ciao Amina!», während er zu den anderen zurückkehrt.
Er hat vor lauter Erzählen sein Münz vergessen. Ich möchte ihm jetzt etwas geben, jedoch scheint es mir keine gute Idee, ihm hinterher zu laufen. Da sitzen zehn andere Obdachlose neben ihm – und nur einem etwas zu geben, wäre auch falsch. Mit diesem Gedanken versuche ich mich selber zu überzeugen, dass ich ein Recht darauf habe, nicht helfen zu müssen.