Das politische 2019 – Das Jahr der Demonstration

Schaut man sich die Weltpolitik des Jahres 2019 an, fällt vor allem eines auf: Die weltweit andauernden Demonstrationen. Ein Rückblick.

Für Lumos aus Berlin: Francesca Barp

Politik wird auf multiplen Ebenen verhandelt. Wir könnten Petitionen zu lokalen Fragestellungen nachzeichnen, den Verlauf von regionalen Volksentscheiden zusammenfassen, Wahlergebnisse auf Bundesebene anschauen oder internationale Verhandlungen beleuchten. Im politischen Geschehen des Jahres 2019 fällt aber vor allem auf, dass es Demonstrierende waren, die in vielen Parlamenten und Medien weltweit die Agenda bestimmt haben. Der demos, also die Bürgerinnen und Bürger im Sinne einer politischen Gemeinschaft, war in diesem Jahr vielerorts mehr als «nur» Wähler*in. Der demos handelte politisch, indem er sich zusammenschloss und im öffentlichen Raum aktuelles politisches Geschehen problematisierte. Anders als in der Vergangenheit, wo es beispielsweise um 2010 sich gegenseitig verstärkende Proteste im Maghreb gab oder aufeinander eng bezogene Bewegungen wie Bloccupy um 2011 bis 2013, sind die Themen der 2019er Proteste vielfältig. Trotzdem zeigen sie immer wieder Verbindungen wie den Widerspruch gegen die Steigerung von Kosten im öffentlichen Dienst und die Kritik an korrupten Regierungen auf.

In Europa sind es allen voran die Jugendlichen der «Fridays for Future», die die Nachrichten seit dem Frühsommer 2019 dominieren. In allen größeren europäischen Städten finden Demos statt, welche die Elterngeneration mahnen und zu drastischem Handeln zum Schutze der Umwelt aufrufen. Unterstützung finden die Jugendlichen in der Wissenschaft, deren Forschungsergebnisse zu Schlüssen führen, welche den Forderungen der Klimajugend weiter Gewicht verleihen. Schweizerinnen und Schweizer erwählen sich einen grünen Herbst und die Staatschefs der Welt hören Thunbergs Reden auf dem UNO-Klimagipfel und in den Parlamenten der Länder, die sie repräsentieren.

Der Entdemokratisierung entgegentreten

In Hongkong hat sich ein gigantischer schwarzer Block formiert – es sind vorwiegend Studierende, die fast täglich Massenproteste durchführen: Regenschirme gegen das Tränengas der Polizei, schwarze Kleidung und Masken zur Wahrung der Anonymität gehören zur Standardausrüstung. Zunächst wendet sich der Protest gegen die Extradition Bill, welche es ermöglichen würde, Häftlinge an China auszuliefern. Doch schnell wird klar: Es geht hier um eine viel größere Angst. Die Angst davor, demokratische Rechte zu verlieren. Die große Mehrheit der Protestierenden ist Anfang 20, geboren ums Jahr 1997 herum – das Jahr, in dem das britische Mandat endete und festgelegt wurde, dass Hongkong in 99 Jahren an China übergeben wird. Von diesen 99 sind nun gut 20 Jahre um und die Demonstrierenden fürchten bereits jetzt den wachsenden Einfluss Chinas. Dieser führt in ihrer Wahrnehmung zur Einschränkung demokratischer Rechte und schürt die Angst, durch die mögliche Auslieferung nach China, den Schutz durch demokratische Gerichte zu verlieren. Als auf die ersten Protestwellen gegen das Auslieferungsgesetz mit massiver Polizeigewalt reagiert wird, spitzt sich die Stimmung unter den Demonstrierenden zu: Die Proteste richten sich nun auch direkt gegen die gewalttätige Polizei, die zum Sinnbild der Entdemokratisierung Hongkongs wird. 

Spektakuläre Bilder und der Wille zur Veränderung

Auch ein Land am anderen Ende der Welt macht Schlagzeilen: Chilen*innen mit Sturmhauben tanzen zwischen brennenden Barrikaden Tango. Tausende Frauen singen im Chor, der weltweit kopiert wird: «Die Schuld war nicht meine, nicht wo ich mich aufhielt, nicht wie ich mich kleide. Der Vergewaltiger das bist du!». Selbst im türkischen Parlament performt eine Gruppe der Opposition die türkische Übersetzung und klagt die Gewalt gegen Frauen* an. Schon seit Jahren ziehen die «Ni una menos»-Bewegungen (zu Deutsch: «Nicht eine weniger») in Chiles Nachbarland Argentinien Millionen Menschen auf die Strassen. Der feministische Protest in Chile schliesst an weitere Proteste an, bei denen es um die erhöhten Kosten im öffentlichen Dienst geht. Die Proteste sind aber in eine Vielzahl Problemlagen eingebettet, die auf das Wirtschaftssystem unter der Regierung Augusto Pinochets zurückgehen und auf die Zeiten des Kolonialismus. Die Demonstrierenden nennen darum Strassen um, die koloniales Erbe verherrlichen, und haben entsprechende Denkmäler eingerissen.  

Im Libanon demonstrieren Tausende gegen die korrupte Regierung und fordern ihren Rücktritt. Zugleich kritisieren die Demonstrant*innen die Preiserhöhungen und Privatisierungen im öffentlichen Dienst. Die Einführung neuer Steuern, unter anderem auf WhatsApp-Anrufe, versetzen das Land in Aufruhr. Nach wochenlangen Protesten im Frühherbst tritt die Regierung um Saad Hariri Ende Oktober zurück.

In Frankreich sind es die Gelbwesten und schließlich staatliche Angestellte, die den Generalstreik forcieren. Sie kritisieren Macrons Rentenpolitik und Privatisierungen, indem sie den öffentlichen Verkehr in Frankreich im Dezember und ins neue Jahr hinein lahmlegen. In Italien verkalkuliert sich Matteo Salvini mit einer vorgezogenen Neuwahl und verliert seinen Posten als Regierungschef. Nach einem Sommer, in dem sein Populismus allumfassend schien und ständig neue Gesetzgebungen hervorbrachte, die Versammlungsrechte einschränken und Seenotrettung kriminalisieren, folgen im Spätherbst «die Sardinen» – eine Protestbewegung, die Italiens Innenstädte singend blockiert, wenn Salvini dort auftritt.

Abgeschlossen wird das «Jahr der Demonstrierenden» in Indien, wo Millionen Menschen gegen die Citizenship Amendment Bill demonstrieren, die kürzlich verabschiedet wurde und den Zugang zu Staatsbürgerschaft für Muslim*innen drastisch beschränken. Während sie die Rechte von Hindus, Sikhs, Christen und Menschen mit Migrationshintergrund anderer religiöser Abstammung ausweiten, schließen sie Muslim*innen ausdrücklich aus. Die Gesetzgebung folgt direkt aus Premierminister Narendra Modis «Hindus-first-Policy», die er im Wahlkampf proklamiert hat.

Vorerst bleibt der Großteil der Proteste «contestation» – Widerspruch. Sie zeigen deutlich, dass sich die Regierten Gehör verschaffen und für ihre Rechte einstehen. Sie zeigen auch, dass sich die politische Gemeinschaft dieser verschiedenen Länder nicht damit zufrieden geben, nur durch die Wahl von Repräsentanten indirekt an der Politik partizipieren zu dürfen, sondern, dass sie aktiv mitgestalten wollen, indem sie proaktiv Themen aufbringen und Rechte mit Nachdruck verteidigen oder einfordern.

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