Sarajevo – das europäische Jerusalem

Ein Reisebericht von Estelle Ophelia Bassal

Auf den Spuren religiöser Vielfalt und vergangener Ereignisse im europäischen Nahen Osten

Sarajevo – „das europäische Jerusalem“ liegt im Herzen des Balkans und ist geprägt von lebendiger Kultur, reichhaltigen Köstlichkeiten und seiner schmerzlichen Geschichte, deren Spuren noch heute in der Stadt und unter den Menschen spürbar sind.

Als ich die Ausschreibung für die Studienreise der Universität Luzern in Zusammenarbeit mit der Hochschulseelsorge Horizonte sah, wusste ich gleich: es ist Zeit für mich, diesen Teil des Balkans kennenzulernen.

Ohne genau zu wissen, was mich erwarten würde, machte ich mich am Sonntag vor einer Woche auf zum Zürcher Hauptbahnhof, mit einem kleinen Koffer gefüllt mit hoffentlich wettergerechter Kleidung, Notizbüchlein, Spielkarten, meinem Häkelprojekt und einer Tüte Schweizer Käse und Schokolade für meine Bekannte in der Republika Srpska. Nach allem, was die letzten Tage und Wochen passiert war, hatte ich mir eine Auszeit verdient und ich lief zum Gleis 7, wo der Treffpunkt unserer Reisegruppe war.

Im Nachtzugabteil war es sehr eng, doch wir sassen nett zusammen, fünf Fremde, und lernten uns kennen. Draussen im Gang war Ramba-Zamba, während wir es uns auf 3 m2 in Ruhe gemütlich machten. Nach einer holprigen Nacht im Zug mit dem plötzlichen Erscheinen des Schaffners in unserem Abteil, weil die Türe sich geöffnet hatte, und mehreren Vollbremsen, bei denen die eine oder andere fast aus dem Bett gerollt war, kamen wir morgens ungeduscht, doch mit überraschend passablem Kaffee beglückt in Zagreb an. Die gute Hälfte der Reise war geschafft, es folgte der Wechsel vom Zug in den Reisebus, weiter von Kroatien nach Bosnien, mit einem kurzen Zwischenhalt bei der Gedenkstätte Jasenovac mit seiner prachtvollen, steinernen Blume, die an zehntausende KZ-Opfer erinnert, welche dort 1945 eingesperrt und hingerichtet wurden. Der erste Kontakt mit einer traurigen Vergangenheit, welche sich so nah abgespielt hat und über welche doch so wenig bekannt ist.

Abbildung 1 Die steinerne Blume in Jasenovac

Weiter ging es über die Grenze, raus aus der EU, gefolgt von einem spätem Mittagessen in Banja Luka. Es gab Burek und Sirnica, frisch und gut, fettig und wohltuend, dazu Trinkjogurt, wie es sich gehört. Willkommen im Balkan! Für die nächste Woche sollte es uns an gutem Essen gewiss nicht fehlen.

Im Hotel in Sarajevo wurden wir herzlich empfangen. Die Besitzerin liess uns gleich wissen, dass wir uns wohlfühlen würden und dass jedes Zimmer eine Aussicht auf die Stadt hat. Nach dem Abendessen gingen wir noch in die Stadt, um uns mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Da zurzeit Ramadan war und wegen des täglichen Fastenbrechens nach Sonnenuntergang viel los, wirkte die ausgelassene Stimmung einladend. Wir genossen Tee und alkoholfreie Cocktails in einer Shisha-Bar und liessen uns danach verschiedene Köstlichkeiten aus der Bäckerei schmecken. Am nächsten Tag erkundigten wir die Aškenazi Synagoge und der dortige Chasan liess uns spannende Einblicke in die religiöse Praxis der jüdischen Minderheit in Sarajevo erhaschen. Hier bedeckten die Männer ihren Hinterkopf vor dem Eintreten in die Synagoge mit einer Kippa.

Abbildung 2 in der Aškenazi Synagoge

Danach ging es weiter ins Rathaus zu einem Gespräch mit der Vizestadtpräsidentin Anja Margetić Stakić und anschliessendem Rundgang durch das farbenfroh und exotisch beschmückte Gebäude.

Abbildung 3 im Vijećnica, Sarajevos ehemaligen Rathaus

Abbildung 4 beim Gespräch mit der Vize-stadtpräsidentin

Plötzlich fanden wir uns in einem Raum wieder, dessen Boden voller leerer Patronenhülsen bestückt war, mit Zitaten an den Wänden von Überlebenden der Belagerung im Bosnienkrieg. Immer mehr wurde mir bewusst, dass der Krieg tiefgreifende Spuren hinterliess. 30 Jahre sind keine lange Zeit für die Aufarbeitung von so viel Schrecken und Schmerz. Im nächsten Raum nahm die Bildgewalt zu. Während unsere Rundführerin mit einer Nonchalance erzählte, wie ein Mann die Freude am Töten für sich entdeckte und uns dazu eine minutiöse Fotoabfolge zeigte, die eine solche Szene Bild für Bild aufzeigt, musste der eine oder die andere von uns schwer schlucken. Ja, ich wusste vom Balkankrieg und dass dieser noch gar nicht lange her ist. Ja, mir war bewusst, dass viele meiner Bekanntschaften aus Schule und Arbeit einen Migrationshintergrund aus dieser Gegend haben und dass sie ihre Heimat verliessen, um in Sicherheit zu sein, doch nun stand ich da vor Ort, und sah nahezu ungefiltert die Auswirkungen dieses Massakers aus jüngster Zeit.

Nach dem schwer zu verdauenden Thema Mord und geschürten Hass im damaligen Jugoslawien ging es zu einem fülligen und reichen Mittagessen in ein typisch bosnisches Restaurant. Als Vorspeise gab es Uštipci, traditionelle frittierte Brötchen, dazu Käse, Salat, Gurken, Oliven und Fleischaufschnitt als Vorspeise, dann Fleischbällchen, Ravioli, Linseneintopf oder sonst was das Herz begehrte. Für jede und jeden war etwas dabei.

Abbildung 5 eine reichhaltige Platte als Vorspeise beim gemeinsamen Mittagessen

Zum Dessert verwöhnten wir uns mit bosnischem Kaffee, serviert auf den traditionellen Kupfertabletts mit Kaffeekännchen und dazu Rahat Lokum und Baklava. Man giesse den Kaffee aus dem Kännchen in das Tässchen und lasse den Kaffeesatz eine halbe Minute setzen. Wer Zucker möchte, nehme den Zuckerwürfel, tunke ihn nur kurz in den Kaffee, beisse davon ab und spüle das mit einem kleinen Schluck Kaffee herunter. Zum Abschluss drehe man das leere Tässchen um und lasse sich den Kaffeesatz lesen, dies aber nur für die Abenteuerlustigen unter uns.

Abbildung 6 bosnischer Kaffee mit Rahat Lokum und Baklava

Der darauffolgende Tagesausflug ging nach Srebrenica, zur Gedenkstätte des nach wie vor im eigenen Land nicht anerkannten Genozids und eines Schandflecks der UN und ihres Auftrags des Schutzes der Menschenrechte. Schon beim Eintreten in die ehemalige Fabrikhalle, die als Massenlager gedient hatte, überkam mich eine eisige Kälte, diese Halle war gefüllt mit unmenschlichem Hass. Eine von vier grossformatigen Fotografien, mitten im Raum aufgestellt, zeigt aus einer Zentralperspektive zahlreiche Männer, welche auf Schlafmatten sitzen, ihre Schuhe neben ihnen auf dem Boden. Sie schauen direkt in die Kamera, mit ausdruckslosem

Blick. Ich lese weder Wut noch Hass, noch Trauer, höchstens ein wenig Unverständnis. Ich frage mich, was ihnen durch den Kopf ging, was sie für letzte Gespräche miteinander geführt haben, ob ihnen die Endgültigkeit der Situation bewusst war?

Diese Gedenkstätte wühlte mich auf, denn sie richtet sich so stark an die Vergangenheit und an die Gräueltaten, die hier geschahen als an die Zukunft und an eine Hoffnung, dass diese Menschen ihren Frieden finden werden. Man kann Hass nicht mit Hass bekämpfen, sondern mit Verzeihen und mit Vertrauen, dass jeder Mensch seine gerechte Strafe erhält. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein….

Abbildung 7 ausgestellte Schuhe der vernichteten Männer in Srbrenica

Nach einem schwerwiegenden Einblick in dieses weitgehend unbekannte Verbrechen an der menschlichen Unversehrtheit und Religionsfreiheit war es im Bus auf dem Rückweg ruhig. Abends genehmigten wir uns in Gruppen das Abendmahl und danach wurde der erdrückende Tag bei ausgelassenem Tanzen mit fabelhafter Live-Musik im City Pub abgerundet.

Am Donnerstag hatte sich spontan die Möglichkeit ergeben, einem Sufi-Ritual als Betrachter beizuwohnen. Für alle Interessierten stand es offen, diese seltene Gelegenheit wahrzunehmen und in eine Welt der islamischen Mystik einzutauchen. Wir hatten schon die Moschee in Banja Luka besucht, sowie die zwei Synagogen und die älteste serbisch-orthodoxe Kirche in Sarajevo. Nun war es Zeit für eine ganz andere Perspektive auf religiöses Beisammensein. Wir Frauen bedeckten unser Haar mit einem Kopftuch, aus Respekt vor der Gemeinschaft und der Religion. Wir schritten durch die massive Holztüre hinein in das unbekannte Gebiet, kalligrafische Schriftzüge an den Wänden, weiter in den Innenhof, dann Schuhe aus und aus dem Innenhof rein in das Gebetshaus, welches mit Teppichen ausgestattet war. Wir Frauen stiegen die Treppe hoch und setzten uns nahe an die Holzlatten, an welchen vorbei wir eine Sicht auf das Geschehen im unteren Bereich hatten. Die gläubigen Männer begannen mit dem üblichen Gebet, welches das gleiche ist, wie in den Moscheen. Es beinhaltet viele, sich wiederholende Elemente und Körperbewegungen wie aufstehen, sich nach vorne beugen, knien und den Kopf nach vorne auf den Boden beugen. Als sich die Männer aus ihren Reihen in einem Kreis versammelten, wurde es wirkungsvoller. Gemeinsam sangen sie Mantras, die zunehmend an Intensität gewannen. Wir Frauen hatten von oben zwar eine teilweise beschränkte Sicht, da die Holzlatten sehr prägnant unser Sichtfeld einschränkten und doch ermöglichte uns diese Position eine besondere Sicht auf das Geschehen, da wir mit sicherem Abstand ungestört betrachten konnten, was da unten geschah und was jeder Teilnehmer tat.

Abbildung 8 betende Männer beim Sufi Ritual

Als das Ritual zu Ende war, verliessen wir den Ort mit verschiedenen Empfindungen. Morgen früh würden wir Sarajevo verlassen.

Zwei Stunden an der kroatischen Grenze, da der übermotivierte Beamte jeden Pass einzeln durchchecken wollte, verlängerten unsere Weiterreise ungemein. Nach einer kleinen Pause in Mostar ging es weiter nach Triest, dem letzten Reiseziel dieser umfangreichen Woche. Noch vor der Ankunft begann der Sabbat und im Hotel ging es direkt in die Zimmer und ins Bett. Der Samstag war unser letzte ganze Tag. Morgenjoggen am Meer, ein fantastisches italienisches Frühstück im Hotel Italia mit gefüllten Pistazien-Brioche und gutem Kaffee aus dem Automaten, Stadtrundgang über mehrere Stolpersteine und gemeinsames Abschluss-abendessen nach italienischem Geschmack. Triest ist eine Stadt, welche dem Thema der interreligiösen und interkulturellen Woche den finalen Touch verlieh.

Abbildung 9 auf dem Stadtrundgang in Triest

Kurz vor der Abreise besuchten wir noch die grösste Synagoge Europas und durften mit dem äusserst sympatischen Chasan ein spannendes Gespräch über die prachtvolle Synagoge, über jüdischen Glauben und dessen Praktizieren haben.

Abbildung 10 (von links) Dr. Richard Blättel, der Chasan, Dr. Martin Steiner und Fabian Pfaff in europas grösster Synagoge in Triest

Nun bin ich wieder zuhause in meinem bekannten Umfeld und schaue erfüllt zurück. Gemeinsame Erlebnisse erwärmen das Herz und wir lernen immer weiter, welch ein Glück es ist, die Freiheit zu haben, seinen Interessen nachgehen zu können und sich stetig weiterbilden zu dürfen.

Ich bin dankbar für diese Erinnerungen, für gute Gespräche im Reisebus, dafür, neues Wissen erworben und Leid und Unbehagen geteilt zu haben, für gemeinsames Essen und Geniessen in bisher unbekannten Städten und für alle Einblicke, die mein Leben und meinen Horizont erweitern.

Ein Herzlicher Dank geht an die Planer und Durchführer des Projektes: Dr. Martin Steiner (Hauptorganisator), Professurvertreter für Judaistik und Theologie, Prof. Dr. Boris Previšic, Titularprofessor für Literatur- und Kulturwissenschaften, Prof. Dr. Erdal Toprakyaran, Professor für Islamische Theologie und Dr. Richard Blättel, temporärer Lehrbeauftragter und Habilitand (IJCF), sowie an Fabian Pfaff, MTh, Hochschulseelsorger.

Weitergehend geht ein Dankeschön an die beteiligten Institutionen: das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF), das Zentrum für Theologie und Philosophie der Religionen und das Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Tübingen. Und Schlussendlich geht ein besonderer Dank an die Hochschulseelsorge «horizonte» Luzern und an den Sponsor, den Stadtverband kath. Zürich.

Abbildung 11 die Reisegruppe im Rathaus in Sarajevo

Ausblick: Öffentliche Abschlussveranstaltung und Abendvortrag zur religiösen und kulturellen Vielfalt an der Uni Zürich am Mittwoch, 17. April 2024 um 18:00.

Link:

Projektvorstellung: Sarajevo – Das Europäische Jerusalem – Universität Luzern (unilu.ch)

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