Vom Auswandern und Heimat finden

Format
Essay
Veröffentlicht am
07. Dezember 2023
Lesedauer
5 Minuten

Caroline Brandt, Politikwissenschaft

Es ist später Nachmittag an einem Freitag. Ausnahmsweise bin ich nicht in der Bibliothek sondern zuhause. Der Blick nach draussen zeigt die Nachbarschaft in weiss gehüllt. Heute morgen hat es angefangen zu schneien. Wenn ich auf den Balkon unserer WG gehe, kann ich die Rigi sehen. Berge in unmittelbarer Nähe, das tägliche Panorama – ein Anblick an dem ich mich wohl nie satt sehen werde. Ich beginne diesen Artikel zu schreiben. Die Idee über die Erfahrungen als Deutsche in der Schweiz zu schreiben ist mir schnell gekommen, doch wie soll ich anfangen? Die Entscheidung fällt mir nicht leicht und so beginne ich mit den Fakten:

Die Schweiz zeichnet sich durch einen Ausländeranteil von 26 Prozent aus. Unter die Definition fallen „alle ausländischen Staatsangehörigen mit einer Anwesenheitsbewilligung für mindestens zwölf Monate oder ab einem Aufenthalt von zwölf Monaten“ und damit auch ich selbst. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, habe dort mein Abitur abgelegt und stand dann wie alle jungen Schulabgänger vor der grossen Frage: Was nun?

Die Wahl des Studienfachs und des Studienorts stellte sich als komplizierter heraus als zunächst antizipiert. Ich wusste lediglich, dass ich nicht in meiner Heimatstadt studieren wollte, wenn möglich auch nicht unbedingt in Deutschland. Nach einem Besuch in Luzern, wo ein Teil meiner Familie wohnte, stand die Entscheidung schliesslich fest: Ich würde in die Schweiz ziehen und dort anfangen zu studieren.

Diese Entscheidung traf ich, ohne mir gross Gedanken über Aspekte wie die kulturellen Unterschiede und das Bild von Deutschen in der Schweiz zu machen. Meine Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf die Schweiz begrenzten sich auf Sommer- und Skiferien in einem kleinen, abgeschiedenen Walliser Dorf. Jedes Jahr verbrachte meine Familie mehrere Wochen dort. Ich war immer sehr dankbar über die Möglichkeit in den Urlaub fahren zu können, doch mit zunehmendem Alter verlor die Aussicht auf Wandern und Boote schnitzen langsam seinen Reiz. Das alte Chalet in welchem wir Jahr für Jahr unterkamen, verfügte weder über einen Fernseher, noch WLAN. Aus heutiger Sicht unter dem Stichpunkt des „Digital Detox“ wohl erstrebenswert, als Jugendliche mit einem schlechten Handyvertrag und keinen mobilen Daten jedoch suboptimal. Die Hauptbeschäftigungen bestanden also aus Lesen, Musik hören, dem Wandern und Raclette essen. Im Dorf gab es nur einen kleinen Laden, die nächste Kleinstadt war rund eine halbe Stunde und viele Serpentinen entfernt. Diese Beschaulichkeit löste bei mir zunehmend Beklemmungen aus und veranlassten mich zu der Aussage, dass die Schweiz zwar ein sehr schönes Land sei, ich es mir aber nicht vorstellen könne, dort jemals zu leben.

Die Schweiz ist so viel mehr als ein verschlafenes Nest im Wallis

Dass dies eine sehr unreflektierte Aussage war ist mir aus heutiger Sicht bewusst. Das Problem lag nicht pauschal an der Schweiz, sondern an meinen begrenzten Kenntnissen über das Land. Ich kannte mit dem Wallis nicht die gesamte Schweiz, nur einen Teil des Landes.

Rückblickend nahm ich den Gedanken, dass die Schweiz sich vor allem durch die Berge und das Leben dort auszeichnete auch deshalb an, weil es dem allgemeinen Bild und den Vorurteilen der Deutschen gegenüber der Schweiz entsprach, vielleicht aber auch weil ich in meiner Kindheit zu viel Heidi geschaut hatte.

Dass Vorurteile und fehlerhafte Pauschalisierungen nicht nur auf Seiten der Deutschen bestehen, bemerkte ich kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz. Zu Beginn meines Studiums und den damit einhergehenden Einführungsveranstaltungen, die öfter im Roadhouse endeten als es hätte sein müssen, sah ich mich immer wieder mit der Anmerkung konfrontiert, dass ich als Deutsche bestimmt gerne Bier trinken würde. Da mir mit dieser Annahme noch nie begegnet wurde und ich mich ebenso wenig damit identifizieren konnte, war ich überrascht (dass ich tatsächlich die nächsten Jahre damit verbrachte überwiegend Bier im Ausgang zu konsumieren, soll hier nicht weiter vertieft werden und ist lediglich auf mein überschaubares, studentisches Budget zurückzuführen).

Ohne, dass ich spezifisch danach gefragt hatte, wurden weitere Aspekte aufgezählt, die Schweizer*innen mit Deutschen verbinden. Neben der Automobilbranche wurde mit Weisswürsten die deutsche Kulinarik und das Oktoberfest thematisiert. Erst dann verstand ich, dass das Bild der Schweizer*innen von uns Deutschen sich überwiegend auf die Charakteristiken des Bundesland Bayern beschränkten. Einem Bundesland dessen Bräuche und Dynamiken mir ebenso fremd und suspekt sind wie allen Personen, die nicht aus dieser Region stammen.

Die Schweiz hat mich für immer verändert und ich würde es nicht anders wollen

Mit meinem Umzug in die Schweiz lebte ich das erste Mal für mehr als einen Monat im Ausland. Noch nie wurde meine Nationalität so oft thematisiert, noch nie war ich mir meiner eigenen Wurzeln so bewusst. In der Schule in Deutschland wurden wir einmal gefragt, mit welcher Begrifflichkeit wir uns am ehesten identifizieren würde: als Deutsche*r, als Europäer*in. oder als Heidelberger*in (meine Heimatstadt)? Ich musste damals etwas überlegen, weder den Begriff der Deutschen noch den der Europäerin fand ich passend. Meinen Freund*innen ging es ähnlich. Wir entschieden uns letztendlich für den der Heidelberger*in. In der Schweiz wurde mir diese Entscheidung abgenommen, ich nahm in den Augen der anderen von Anfang an die Rolle der Deutschen ein. Das soll keine Kritik an der Schweiz und den Schweizer*innen sein, ich weiss, dass eine solche Kategorisierung genauso in jedem anderen Land auch erfolgt wäre. Die Rolle der Deutschen werde ich hier wohl immer einnehmen, auch wenn ich jeden Dialekt verstehe (ja, auch den Walliserdialekt) jegliche Helvetismen in meinen Sprachgebrauch aufgenommen habe, meine Satzbaustellung und Wortbetonungen sich grundlegend verändert haben und ich problemlos auf schweizerdeutsch schreiben könnte. Mein Hochdeutsch wird mich immer enttarnen.

Wie bereits angesprochen bin ich selbst kein Fan von Pauschalisierungen, keine Nation kann gesamthaft durch die gleichen Charakteristiken abgebildet werden. Aussagen wie alle Schweizer*innen sind reich, sind offensichtlich wenig reflektiert und fernab jeglicher Realität.

Meine Erfahrungen aus vielen Jahren in der Schweiz, meiner Freundesgruppe und meiner Beziehung bestätigen jedoch eines: Schweizer*innen sind in Konfliktsituationen eher zurückhaltend und definitiv umgänglicher als Deutsche. Bei dieser Aussage muss ich an einen Urlaub vor fast zwei Jahren denken. Mein Freund und ich fuhren in Italien auf einer Landstrasse, ein Auto überholte uns zu eng und touchierte uns. Nachdem wir angehalten hatten und uns vom Schreck erholt hatten, ging es darum sich mit dem Unfallverursacher auseinanderzusetzen. Die Kommunikation erwies sich als kompliziert, er konnte kein Englisch, wir nur sehr wenig Italienisch. Während ich also versuchte mit meinen Italienischkenntnissen auf A1 Niveau deutlich zu machen, dass wir die Polizei rufen müssen und alle Daten austauschen müssen, schlug der Verursacher vor, dass zu unterlassen und bot alternativ an, dass wir in der Autowerkstatt seines Freunds den entstandenen Schaden reparieren lassen sollen. Ich war ausser mir. Mein Freund hingegen war bereit einzulenken. Ich fing an zu diskutieren und bewirkte, dass wir zumindest alle notwenigen Daten austauschten, inklusive einer fotografischen Dokumentation des Schadens und des Kennzeichens des Verursachers. Trotzig posierte dieser vor seinem Auto. Das Bild dient mittlerweile als schöne Urlaubserinnerung.

Die Erfahrungen als Deutsche in der Schweiz sind lange nicht erzählt und lassen sich nur schwer in einem Artikel zusammenfassen. Was ist also mein Resümee über das Leben in der Schweiz? Die Entscheidung auszuwandern habe ich in jungen Jahren relativ naiv getroffen. Ich wusste nicht was mich erwarten würde, wusste nicht wie lange ich bleiben würde und ob mir das Leben hier gefallen würde. Fest steht, die Schweiz hat mich für immer verändert und ich würde es nicht anders haben wollen.

Es ist nun spät am Abend, der Schnee ist zu meiner Freude liegengeblieben. Ich schaue aus dem Fenster, Schneeflocken tanzen in der Luft. Ich könnte mir keinen schöneren Ort vorstellen.

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