In der Schweiz gibt es rund 10’000 gehörlose Menschen. Urban und Priska sind zwei davon. Die beiden Eheleute feierten kürzlich ihren 60. Geburtstag und ich war am Fest mit dabei. Von den rund 35 Gästen waren die meisten ebenfalls gehörlos oder schwerhörig. Wie ich diesen Abend als Hörende empfand und was ich über die Kultur der Gehörlosen gelernt habe, erzähle ich in diesem Bericht.
Caroline Eicher, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften
Ich selbst kann nur sehr wenig Gebärdensprache. Bevor die Gäste kamen, holte ich mir deshalb bei den Gastgebern noch die letzten Tipps ab: “Sprich deutlich, sprich Hochdeutsch und schau den Gehörlosen dabei immer ins Gesicht, damit sie dir von den Lippen ablesen können”, wurde mir empfohlen. Die meisten Gehörlosen verstehen kein Schweizerdeutsch, denn wer seit Geburt oder frühester Kindheit gehörlos ist, hat in der Regel keinen mündlichen Dialekt gelernt. Stattdessen lernen die gehörlosen Kinder in der Schule Schriftdeutsch
Zur Begrüssung wurden Hände geschüttelt, Umarmungen und Küsschen auf die Wangen verteilt. Als Freundin der Familie wurde ich herzlich begrüsst und in Gespräche verwickelt. Schnell war klar, dass man manche Gehörlose besser versteht als andere.Einige haben Mühe, die Laute richtig auszusprechen, andere versteht man perfekt. Ein Mann sprach mich sogar auf Schweizerdeutsch an, so dass ich einen Moment verunsichert war, ob er überhaupt gehörlos ist.
Die Gründe für einen Hörverlust können zahlreich sein. In Urbans Fall war dies eine Mittelohentzündung, als er zwei Jahre alt war. Priska hingegen kam bereits gehörlos zur Welt. Ihre Mutter litt während der Schwangerschaft an Röteln, was die Entwicklung des Gehörgangs beim Fötus beeinträchtigte. Beide Krankheiten können inzwischen medizinisch behandelt werden, so dass es bei den Kindern nicht zu einer Gehörlosigkeit führt. Dank dem Fortschritt der Medizin gibt es heute immer weniger gehörlose Menschen.
Seit einigen Jahrzehnten ist zudem das Cochlea-Implantat auf dem Markt. Dieses wird am Schädel, meist oberhalb des Ohrs, implantiert und transportiert die Schallwellen via Knochen direkt an den Hörnerv. Damit überbrückt das Implantat die geschädigten oder fehlenden Teile des Ohrs und restauriert damit den Gehörsinn. Ich fragte Urban einmal, warum er sich das Implantat nie hat einsetzen lassen. Daraufhin grinste er mich nur an und sagte, er möge die Stille zu sehr. Seine Tochter klärte mich später darüber auf, dass es für eine erwachsene Person sehr schwer sei, das Hören ganz neu zu lernen. Jedes Geräusch müsse vom Gehirn neu aufgenommen und katalogisiert werden, was enorme Geduld erfordere. Es sei daher nicht üblich, das Implantat bei Erwachsenen einzusetzen. Kinder lernen das Hören sehr viel einfacher, weshalb es heutzutage gängige Praxis sei, gehörlosen Kindern das Cochlea-Implantat zu implantieren. Für die Gehörlosengemeinschaft bleibt dies aber nicht ohne Folgen. Da es weniger gehörlose Kinder gibt, schwindet die Zahl der Mitglieder der Gemeinschaft zunehmend.
Eine Generallösung für den Hörverlust ist das Cochlea-Implantat leider nicht. Daniel ist Urbans Bruder und ebenfalls gehörlos. Er ist Lehrer für Gebärdensprache und begleitet gehörlose Kinder durch ihren Schulalltag in normalen Regelklassen. Er ist eine stille Person, jedenfalls was Geräusche anbelangt. Wenn er gebärdet, dann formt er die Worte tonlos mit den Lippen mit. Andere Gehörlose sprechen jede Gebärde laut aus. Dies kann je nach Situation oder Präferenz des Gebärdenden variieren. Gelächter, Stimmengewirr oder auch gelegentlich laute Ausrufe sind im Saal zu hören. Teller, Tassen und Besteck klappern ein wenig lauter als normal. Man hört das Quietschen der Gabel auf dem Teller schliesslich nicht. Trotz fehlender Musik ist es im Festsaal deswegen doch nie wirklich ruhig.
Die meisten der Anwesenden sind Schulfreunde der beiden Gratulanten. Urban erinnert sich. Die Schule für Gehörlose in Hohenrain LU wurde von Schwestern geleitet. Die Regeln waren sehr streng. Die Kinder lernten damals in der Schule zwar Gebärdensprache, durften sie ausserhalb des Unterrichts jedoch nicht benutzen. Hochdeutsch war die Norm. Wurden die Regeln gebrochen, gab es Schläge. Die Schule gibt es heute nicht mehr und gehörlose Kinder werden in normalen Regelklassen integriert. Ein besseres System, findet Priska. Sie besuchte zunächst auch die Schule für Gehörlose. Weil sie aber mit dem Lerntempo unterfordert war, durfte sie in eine normale Regelklasse wechseln. Ihre Aussprache ist klar und deutlich. Das sei so, weil sie Umgang mit normalen Kindern hatte und deshalb gezwungen war, so verständlich wie möglich zu sprechen. Nur so wurde sie von den anderen Kindern auch richtig verstanden, klärt sie mich auf. Lächelnd erzählt sie mir von ihrem ersten Schultag. Sie sass damals in der vordersten Reihe, damit sie von den Lippen des Lehrers ablesen konnte. Zu ihrem Pech hatte der Lehrer aber einen dichten Vollbart, was das Lippenlesen fast unmöglich machte. Dem Lehrer sei dies wohl aufgefallen, denn am nächsten Tag sei er frisch rasiert und ohne Bart zum Unterricht erschienen. Sie sei ihm noch heute dankbar dafür, sagt mir Priska.
Nach der Hauptspeise wird zu einem Spiel aufgerufen. Jedes Geburtstagskind darf sich sechs Teammitglieder aussuchen, die sich in einer Reihe gegenüber dem anderen Team aufstellten. An einem Ende der Reihe steht eine Person, die ein Stück Stoff hochhält, am anderen Ende eine Person, die eine Frage formuliert. Alle Mitglieder eines Teams müssen sich die Hände geben. Der vordersten Person in der Reihe wird eine Aussage gebärdet. Ist die Aussage richtig, muss die vorderste Person die Hand der nächsten Person drücken und diese wiederum die Hand der nächsten Person, bis der Händedruck bei der letzten Person ankommt, die dann so schnell wie möglich den Stofffetzen an sich reisst. Das schnellere Team gewinnt einen Punkt. Damit die anderen die Aussage nicht «hören» bzw. in diesem Fall nicht sehen, müssen sich alle ausser der vordersten Person in die andere Richtung drehen. Ich spiele in Urbans Team mit. Alles läuft gut, bis ich an der Reihe bin, über richtig oder falsch zu entscheiden. Extra für mich wird die Aussage laut ausgesprochen. Unglücklicherweise hat der Sprecher aber eine nicht so klare Aussprache und ich habe Mühe, ihn zu verstehen. Bis seine Worte in meinem Hirn einen Sinn ergaben, hat das Gegnerteam den Stoff bereits ergattert. Spass machte es trotzdem.
Ein wichtiges Anliegen der Gehörlosengemeinschaft ist, dass man sie nicht mehr als Taube oder gar Taubstumme, sondern als Gehörlose bezeichnet. Eine kleine Differenz macht hier einen gewaltigen Unterschied.