Existiert eine Norm der Trauer?

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Format
Interview
Lesedauer
4 Minuten
Veröffentlicht am
24. Oktober 2022

Wir alle werden früher oder später mit Trauer konfrontiert. Gesellschaftliche Normen können uns bei der Bewältigung helfen, können aber auch hinderlich sein. Welche Schwierigkeiten es gibt und warum Trauer immer individuell ist, zeigt ein Gespräch mit einer Seelsorgerin. Von der Dunkelheit ins Helle finden, scheint mit der Vorstellung von Trauer vieler Menschen vereinbar, doch inwiefern zeichnen sich solche Vorgänge in der Realität aus? 

Klara Förster, Gesellschaft- und Kommunikationswissenschaften

Normen gleichen einer Art Anleitung für das Verhalten von Menschen. Daher wissen Menschen, wie sie sich in gewissen Situationen zu verhalten haben – was ist erlaubt, und was nicht und so weiter. Normen zeigen sich im Verhalten und den Handlungen von Menschen, Normen stecken aber auch in den Köpfen der Gesellschaft. Sie haben ihren festen Platz, wobei nicht immer hinterfragt wird, inwiefern Normen überhaupt individuell anwendbar sind. Gerade bei Gegebenheiten, die sich im Lauf eines Menschenlebens nicht umgehen lassen, kann das der Fall sein. Viele Menschen wurden in ihrem Leben bereits mit dem Tod konfrontiert, für andere ist dieses Thema ein Tabu oder sie haben sich bisher schlichtweg keine Gedanken darüber gemacht. Wenn Menschen im sozialen Umfeld mit dem Tod konfrontiert werden, so wird auch die Trauer bald zum Thema werden. Trauer gehört zu einem notwendigen Prozess, sich mit Verlust auseinanderzusetzen. 

Seelsorge/ Care-Team

Renate Förster arbeitet als Seelsorgerin  im Kantonsspital Luzern und leistet ebenfalls Care-Team Arbeit. Zu ihren Aufgaben gehört es einerseits, Menschen, unabhängig von Kultur, Weltanschauung und Religion, in Krisensituationen zu helfen. Bei dieser Unterstützung ist das Zuhören, Da-Sein und die Begleitung der betreffenden Person fundamental. Renate Förster bezieht sich bei der Erklärung ihres Berufes auf ein wunderschönes Wortspiel: «Der Seele Sorge tragen». Die Seelsorge findet in unterschiedlichen Alltagssituationen statt – ihre Arbeit im Kantonsspital Luzern ist durch die Mitarbeit im interprofessionellen Team, der Teilnahme an ethischen Entscheidungsfindungen, Fallbesprechungen  sowie Notfalleinsätzen des Pikettdienstes, der durch sieben Seelsorger*innen 24 Stunden und sieben Tage die Woche angeboten wird, Ritualbegleitung oder der Unterstützung zur Suche nach Spiritualität in verschiedensten Bereichen des Lebens geprägt. Die Voraussetzungen für den Beruf Seelsorge/Care-Team setzt sich aus einem Master-Abschluss in Theologie, so wie einem Clinic Pastoral Training und der Ausbildung zur Fachkraft in psychologischer Nothilfe und Trauerbegleitung zusammen.

Trauerbegleitung im Berufsalltag

Begegnung mit Trauer gehört zum Berufsalltag von Renate Förster. Im Kantonsspital begegnet sie meistens Menschen, welche mit der Trauer des Krankseins oder der Trauer in Zusammenhang mit Todesfällen konfrontiert sind. Die Trauernden werden vorab jedes Mal nach Zustimmung oder Ablehnung der Hilfe, Wünschen und Anmerkungen gefragt. So zeigt sich schon hier die Wichtigkeit und Verschiedenheit des Trauerns. Eine Trauerbegleitung kann weltlich oder religiös sein, das heisst, beispielsweise kann Kraft durch Gebete oder aber durch das Anzünden von Kerzen geschenkt werden. Auch die Symbolfindung spielt für die Trauernden eine grosse Rolle – hier ist die Frage danach, was den Betroffenen wichtig ist, im Fokus. «Die meisten wissen sofort selbst, was sie für sich brauchen und was ihnen guttut», erklärt Renate Förster.  Auch sogenannte Trittsteine zu legen, gehört zur Aufgabe der Unterstützung im Trauerprozess. Es ist wichtig, dass Trauernde einen solchen Trittstein finden, die den Betroffenen Halt geben können. Ein Trittstein ist etwas, das Halt und Unterstützung geben kann und Trauernde in die Realität zurückholt, statt in der Spirale der Trauer vollständig zu ertrinken. Ein Trittstein ist eine Hilfe, um mit der Trauer umzugehen und aus ihr herauszufinden. Diese Trittsteine sind ganz individuell.

Als fundamental für den Vorgang des Trauerprozesses sieht Renate Förster das Verabschieden an. Verabschiedungen seien notwendig und hilfreich, mit dem Verlust umzugehen. «Ich frage die Betroffenen immer, ob sie die verstorbene Person noch einmal sehen möchten, oder ob sie bereit sind, sie freizugeben. Die Tendenz nur noch im Kleinen Abschied zu nehmen, keine Traueranzeigen, keine gemeinsamen Treffen nach der Beerdigung sehe ich als schwierig an. Warum soll eine Gesellschaft, eine Gemeinde, ein Dorf nicht Anteilnahme ausdrücken können und so unterstützen? Das Tabu Tod wird durch die Abschiedsfeiern nur im engsten Kreis noch mehr gefördert.»

Auch Hoffnung ist in der Trauerbegleitung ein wichtiges Stichwort. «Ich versuche, mit den Trauernden einen Bezug zur Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit und einen Bezug zur Realität zu finden.» Wenn Menschen begleitete Hilfe im Trauerprozess benötigen, so kommt auch ein Zeitpunkt, an dem die Begleitung der Spitalseelsorge und des Care-Teams endet. Hierbei gehört es ebenfalls zum Aufgabenbereich von Renate Förster, mit den betroffenen Personen zu schauen, wie es weitergeht. Nachsorge: Ist weitere Begleitung nötig? Wenn ja, wer macht sie? Auch die Frage des «Wie geht es nun weiter» gehört zu den Aufgaben von Renate Förster. Was ist nach einem Todesfall zu tun? An wen kann ich mich wenden? Auch solche Unterstützung ist im Trauerfall notwendig und wichtig für den gesamten Trauerprozess.

Phasen der Trauer

Auf die Frage, ob es fürs Trauern eine klare Anleitung gibt, hat Renate Förster eine klare Antwort: «Nein, die gibt es nicht. Jeder Mensch hat das Recht, auf seine individuelle Art und Weise zu trauern.» Es gibt immer Klischees und gesellschaftliche Erwartungen, mit denen sich Trauernde herumschlagen müssen. Schlussendlich wissen betroffene Personen selbst, was ihnen hilft. Der Trauerprozess durchläuft nach Elisabeth Kübler-Ross mehrere Phasen: Die Phase 1 des Leugnens, Phase 2 des Zorns, Phase 3 des Verhandelns, Phase 4 der Depression und Phase 5 der Akzeptanz. Renate Förster unterstreicht hierbei aber einen wichtigen Fakt, den sie durch ihre langjährige Erfahrung als Seelsorgerin und Arbeit im Care-Team bestätigen kann. Sie bestätigt das individuelle und unterschiedliche Auftreten, Zulassen und Erscheinen der Trauer. Bestimmte Phasen, wenn nicht sogar alle Phasen der Trauer, durchlaufe jedoch jede Person. «Das Individuelle bei einer Trauer ist, dass sich ein Mensch das aussucht, was ihm guttut.» 

Ein Trauerprozess ist schmerzhaft und oftmals schrecklich – wie sich ein Mensch während der Trauervorgangs fühlt, kann aber auch niemals verglichen werden. Auch ein Nachvollziehen kann gerade durch Menschen, die zuvor noch nie damit konfrontiert wurden, nicht stattfinden. Trotzdem werden teilweise Erwartungen an Trauernde gestellt, welche den Prozess nicht leichter machen. Diese Erwartungen können sein, dass das Umfeld einer trauernden Person Annahmen darüber stellt, was den Trauernden gerade am Besten tun würde. Oder Annahmen darüber zu stellen, wie es der Person geht oder gehen müsste. Die Unterstellung der Verdrängung und Bewertung der Trauerbewältigung der Betroffenen.

Trauernde haben das volle Recht, den Schmerz so zu bewältigen, wie sie es für richtig halten. Die Individualität bei Trauernden ist ausserdem notwendig – wie sollte man solche Gefühle und Zustände denn jemals vergleichen können, wenn alles in der betroffenen Person selbst stattfindet. Die Individualität des Trauerns ist wichtig. Trauern ist weinen, trauern ist lachen, trauern ist mit den Liebsten zu tanzen und trauern ist, sich tagelang im Bett zu verkriechen. Trauern kann vieles sein und ist doch eins.

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