Geburtstagsfest, spontanes Apéro, Buffet am Arbeitsplatz, eine Guezli-Packung zum Teilen als Dessert. Gibt’s immer mal wieder, allen schmeckt’s, jeder greift zu. Das Essen neigt sich dem Ende zu, auf der Fruchtplatte liegen noch drei Erdbeeren, huch, jetzt sind es noch zwei. Nun schnappt sich auch jemand die zweitletzte Erdbeere. Daliegt nur noch eine einzige Erdbeere und starrt dich alleingelassen von der Früchteplatte aus an. Die “Übriggebliebene”. Komisch.
Klara Förster, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften
Alle Hände, die sich in den letzten Minuten gierig und ohne pardon Richtung Platte bewegten, scheinen nun erstarrt zu sein. “För mech esch grad guet, danke” heisst es, gefolgt von einem peinlich berührten Lächeln. Eine unangenehme Stimmung verbreitet sich in der Runde und die Erdbeere, die bleibt da liegen und wird vorerst knallhart ignoriert. Irgendwann wird sie es sie dann schon noch gegessen, das dauert aber noch. So lange, bis die Teller abgeräumt werden und sich jemand in einem unbeobachteten Moment traut, die Erdbeere zu vernaschen, oder aber jemand ist stark genug, sich zu überwinden, das letzte Stück vor aller Augen von der Früchteplatte zu entfernen, in den Mund.
Solche Situationen gibt es unzählige, und wenn dir das bis jetzt nicht aufgefallen ist, dann wirst du spätestens nach dem Lesen dieses Beitrags darauf achten und merken, wie häufig das allerletzte Stück auf der Platte erstmal liegen bleibt. Mir ist das irgendwann aufgefallen. Mit der bewussten Teilnahme an solchen Situationen habe ich gemerkt, wie sich in mir eine nervöse Spannung anbahnte, sobald sich jemand das zweitletzte Stück schnappte, denn, oh oh, das Schwizerresteli ist da.
Wieso nimmt niemand das Letzte Stück?
Diese Frage nervte mich nach längeren Beobachtungen so stark, dass ich – Achtung Dramatik – etwas dagegen tun musste. Jedes Mal, falls ich einer solchen Situation nun wieder begegnete und mich das “Schwizerresteli” anstarrte, nahm ich es. Das letzte Stück. Lustigerweise braucht das ziemliche Überwindung, auch wenn es dabei nur um einen Keks oder eine Erdbeere geht.
Natürlich ist hier ganz klar zu unterscheiden, wer an solchen Situationen teilnimmt. Familie oder Geschäftsapéro zeigen – in meinem Fall zumindest – grosse Unterschiede auf. Auch mit guten Freunden muss ich mir nicht wirklich Sorgen machen, mit dem Schwizerresteli konfrontiert zu werden. Da spielen Anstandsregeln je nach Umfeld also eine andere Rolle und es besteht eine grössere Gefahr auf peinliches Berührtsein. Anstand wird als ungeschriebene Regel des äusserlich gezeigten Verhaltens gegenüber sich selbst und gegenüber anderen beschrieben. Man passt sich seinem Umfeld an – somit definiert sich auch Anstand je nach Umfeld anders.
Schweizerliche Bürger:innen
Typische Schweizer:innen werden als höflich, zurückhaltend und pünktlich angesehen. Daran denke zumindest ich, wenn ich mir die Bürger:innen der Schweiz so plakativ vorstelle. So, wie ich uns Schweizer:innen bisher erlebt habe, bestätigt sich diese Vorstellung auch immer wieder. Wie der Autor Albert Tanner schreibt, galt das was wir heute noch erleben, schon im 19. Jahrhundert: ”Sparsamkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung als Vorbild der Verhaltensregeln für die Schweizer Bürger:innen.” (Tanner 2012).
Ich würde somit vermuten, dass – in vielleicht unbewusster Erfüllung dieser Erwartungen – dieses Anstands- oder eben “Schwizerresteli”, in fast der ganzen Schweiz gang und gäbe ist.
Sicher sind Anstandsregeln wichtig, wenn nicht sogar notwendig. Einerseits um dafür zu sorgen, dass alle Beteiligten in einer Situation wissen, wie sich sich zu verhalten haben und andererseits um zu bewirken, dass sich alle gleichermassen wohl fühlen. In Bezug auf das “Schwizerrestelis” finde ich jedoch, dass ein kleines bisschen Ignoranz in Sachen Anstand nicht Schaden würde. Ich bin mir fast sicher; mit einem Funken mehr Offenheit und weniger Zurückhaltung wäre es möglich, solche peinlichen Situationen zu vermeiden. Und lasst uns ehrlich sein – niemand mag es.
Also scheut euch nicht, das letzte Stück zu schnappen. Ihr tut uns allen einen Gefallen.