Tradition vs. Fortschritt: Warum die Glarner Landsgemeinde nicht altersschwach und ein Segen für Jungwähler*innen ist

Fotocredit: Kanton Glarus / S. Trümpy
Fotocredit: Kanton Glarus / S. Trümpy
Format
Bericht
Lesedauer
5 Minuten
Veröffentlicht am
12. Mai 2022

Ein Relikt aus vergangenen Zeiten macht Jahr für Jahr Schlagzeilen. Die Glarner Landsgemeinde hat nicht nur Gutes, obwohl sie den kleinen konservativen Bergkanton progressiv macht. Für Polit-Nerds ist sie aber sowieso der absolute Place-to-be!

Manuel Fasol, Religion-Wirtschaft-Politik

Die Glarner Landsgemeinde war schon immer Garant für wegweisende Entscheide. Als allererster Kanton der Schweiz führte er im Jahr 1864 ein Arbeitsgesetz ein. Die Stimmbürger (ja, damals wirklich nur Männer) beschränkten darin unter anderem den Arbeitstag auf 12 Stunden, verboten die Nachtarbeit und gewährten schwangeren Frauen Schutz. Ein für diese Zeit extrem fortschrittliches Gesetz. Wenig später folgten andere Kantone dem Glarner Beispiel, schliesslich, 1877, auch der Bund.

Auch ein Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt die progressive Natur der Landsgemeinde im kleinen Bergkanton: Vor einigen Jahren kam Stimmrechtsalter 16, im ersten und bis heute einzigen Kanton dürfen also Glarner*innen ab 16 Jahren auf kommunaler und kantonaler Ebene abstimmen und wählen. Und vor einem Jahr gab die Landsgemeinde dem Kanton das strengste Energiegesetz der Schweiz. Unter anderem dürfen Öl- und Gasheizungen nicht mehr neu gebaut oder ersetzt werden und kantonale Gebäude müssen bis 2040 mit mindestens 90 Prozent erneuerbarer Energie beheizt werden. 

Mindern und Mehren – Politik für alle

Es ist schon bemerkenswert, welch progressive Entscheide die Landsgemeinde immer wieder hervorbringt, ist der Kanton bei nationalen Vorlagen doch stets extrem konservativ eingestellt und lehnt regelmässig klima- oder einwanderungsfreundliche Vorlagen ab. Woran liegt das? Dazu muss man wissen, wie die Landsgemeinde funktioniert:

Immer am ersten Sonntag im Mai wird auf einem zentralen Platz in Glarus ein grosser Ring aus Holz aufgestellt, in der Mitte steht eine kleine Bühne mit Redner*innenpult. Auf dem Ring versammeln sich dann jeweils die Wählenden und Abstimmenden, auf der Bühne die Redner*innen. So viel zum Setting. Nun kommt aber auch schon ein erstes aussergewöhnliches Element hinzu: Abgestimmt wird per Handzeichen. Wer einer Vorlage zustimmt, hebt also die Hand. Die Mehrheiten werden anschliessend geschätzt (elektronische Lösungen werden seit Jahren diskutiert, aber immer wieder verworfen). 

Der nächste eher ungewöhnliche Aspekt betrifft die Vorlagen selber. Diese werden zwar vorab eingegeben. An der Landsgemeinde können aber alle Stimmberechtigten ans Redner*innenpult treten und ihre Meinung zur Vorlage zum Besten geben – vor dem ganzen Kanton, der quasi auf dem Ring rundherum versammelt ist. Bemerkenswert dabei ist, und das ist der dritte höchst interessante aber doch eher aussergewöhnliche Aspekt, dass jeder und jede die politischen Vorlagen eigenhändig abändern können. Mindern und Mehren wird dieser Vorgang genannt und meint genau das: Man kann einem Geschäft etwas hinzufügen oder man kann es abspecken. Über die verschiedenen Vorschläge wird dann abgestimmt.

Die Probleme – verstaubtes Relikt oder Demokratie-Perle? 

Direkte Demokratie wie sie leibt und lebt – eine Perle der Redefreiheit. So kann man die Glarner Landsgemeinde durchaus betiteln. Und: Diese Art von Landsgemeinde ist einzigartig in der Schweiz. Denn es gibt zwar auch noch in Appenzell-Innerrhoden eine Landsgemeinde, da können die Stimmberechtigten die Vorlagen aber nicht ändern, sondern «nur» zustimmen oder ablehnen. 

Eine runde Sache also? Nicht ganz. Denn aus politischer Sicht hat die Glarner Landsgemeinde auch Schwächen, die nicht zu vernachlässigen sind. Das Hauptproblem ist die Partizipation. Denn in der Theorie haben zwar alle Stimmberechtigten die Möglichkeit, teilzunehmen, doch in der Realität ist das keinesfalls gewährleistet. Wer beispielsweise krank im Bett liegt oder aus Altersgründen nicht aus dem Haus kann, wer in den Ferien ist oder arbeitet, wird von der Landsgemeinde ausgeschlossen. Briefwahl geht ja nicht. 

Hinzu kommt auch der körperliche Zustand. Für eine jüngere Person ist es kaum ein Problem, bei tiefen Temperaturen, Wind und Wetter ein paar Stunden im Ring zu stehen. Einer älteren oder gebrechlichen Person ist das unter Umständen nicht möglich. Ausserdem ist die Beteiligung an der Landsgemeinde generell sehr tief, tiefer als bei Urnenabstimmungen, wie Politologe Sean Müller kürzlich gegenüber Watson sagte. 

Insgesamt weist die Landsgemeinde also massive Demokratiedefizite auf und ist nicht nur Demokratie-Idyll. Dennoch ermöglicht sie progressive Politik und hat besonders für junge Leute, die sich engagieren wollen und die mobilisieren können, enormes Potenzial! Und sie ist für Interessierte und Politik-Nerds eine ungemein lehrreiche und vor allem spannende Angelegenheit. Wer noch nie da war: Die Glarner Landsgemeinde ist mitnichten ein verstaubtes Relikt aus der Vergangenheit, sondern ein Ort an dem live Politik gemacht und gelebt wird. 

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