Von der Freiheit, dabei zu sein

Format
Essay
Lesedauer
4 Minuten
Veröffentlicht am
29. Oktober 2021

Da er einige sehr private Gedanken enthält und von persönlichen Erfahrungen berichtet, wurde dieser Artikel von einem unserer Redaktionsmitglieder anonym verfasst.

20. September 2021, der Beginn des neuen Semesters. Das Wetter war miserabel. Auf dem Weg in die Uni lief ich mit gesenktem Kopf an den Student*innen vorbei, welche gegen die neu eingeführte Zertifikatspflicht demonstrierten. Erst als ich im Inneren des Gebäudes stand, sah ich auf, sah die Leute, die umherliefen, mit Maske zwar, aber sie waren da. Sie redeten miteinander, manche hielten müde einen Kaffeebecher in der Hand. Ohne einen Blick zurück nach draussen, wo gerade jemand eine flammende Rede begonnen hatte, eilte ich nach oben, weit weg von dem, was die Pandemie mit unserer Gesellschaft ausgelöst hat.

Das hier ist keine Befürwortung der Zertifikatspflicht. Es ist auch keine Kritik daran. Vielmehr sind es persönliche Gedanken darüber, was diese Zertifikatspflicht bedeutet, zumindest für mich.

Um diese Bedeutung erklären zu können, müssen wir zurück, ziemlich genau ein ganzes Jahr. Ende September 2020. Das Wetter: sonnig. Ich sass auf einem Sofa, im Schneidersitz, wie ich es immer tue, meine Hände waren kalt. Jemand sah mich an, hörte mir zu, machte sich Notizen, während ich sprach und vieles nicht in Worte fassen konnte. Ich war bei der Psychologischen Beratungsstelle Campus Luzern. Die Pandemie hatte mich krank gemacht, und das, obwohl ich mich nie mit dem Coronavirus infiziert hatte. Ich war dort, weil die Pandemie mir psychisch so sehr zugesetzt hatte, dass ich an manchen Tagen nicht einmal mehr aus dem Bett kam. Ich war immer müde, ich hatte Angst, ich war innerlich leer. Der schulpsychologische Dienst empfahl mir, eine Therapie zu beginnen, was ich schliesslich auch tat. Es folgte ein Jahr voller Therapiesitzungen, Antidepressiva und vielen Rückschlägen, jedes Mal, wenn die Pandemie wieder schlimmer wurde, wenn es neue Massnahmen gab, wenn das Leben wieder bloss in den vier Wänden meines WG-Zimmers stattfand oder stillstand.

Aber jetzt, jetzt sind wir wieder da. Hier, an der Uni. Ein bisschen Normalität, ein bisschen Lebensfreude. Der Schein, als würde es das Virus nicht geben, als wäre alles wie vorher, alles in Ordnung. Es ist merkwürdig, die Menschen zu treffen, welchen man ein Jahr lang nur als Bild auf dem Laptop begegnet war. Sie sind viel facettenreicher, als es uns Zoom je vermitteln könnte. Sie bringen dich zum Lachen, zum Nachdenken, zum Philosophieren. Es sind die einfachen Dinge, die mir gefehlt haben. Eine Diskussion darüber, welches Salatdressing der Mensa das Beste ist. Fünf Minuten einer Diskussion lauschen, bei der man selbst nichts zu sagen hat, aber einfach gerne zuhört. Die bunten Sticker auf den Laptops betrachten. Während der Vorlesung dem Nachbarn leise kichernd ein Katzen-Meme zeigen. Schweigend nebeneinander sitzen und lernen, gelegentlich unterbrochen von einer Kaffeepause. Schon wieder nichts davon verstehen, wovon die Professorin spricht. Das Feierabendbier am Donnerstag. Mit fünf verschiedenen Trinkflaschen zum Wasserspender laufen und sich dabei in der überlaufenden Mensa fast den Hals brechen.

Es ist grossartig. Es ist erfüllend. Ich will es nie wieder hergeben müssen.

Politikwissenschaftler*innen wissen: Es gibt die positive und die negative Freiheit. Mit der negativen Freiheit bezeichnen wir die Freiheit von allen inneren und äusseren Zwängen, mit der positiven Freiheit die Möglichkeit, dass jede und jeder einzelne seine oder ihre Freiheit nutzen kann. Momentan mache ich von der Freiheit Gebrauch, dass mir etwas wirklich, wirklich egal ist. Mir ist dieses Zertifikat egal und die Bedingungen, welche daran geknüpft sind. Mir ist egal, was es mir vielleicht nehmen könnte. Mir ist bloss wichtig, was es mir gibt.

Ja, es ist arrogant und ignorant, sich von der Diskussion abzuwenden, von so wichtigen politischen und gesellschaftlichen Fragen. Es ist arrogant, sich selbst von der Legitimitätsfrage auszunehmen. Es ist ignorant, so zu tun, als würde dieses Zertifikat keine komplexen Fragen aufwerfen, die einen genauso betreffen wie alle anderen auch. Und dennoch sind es nicht die Fragen, welche ich mir selbst stelle, wenn ich über die Pandemie oder das Zertifikat nachdenke. Ich stelle mir folgende Fragen: Was brauchst du, damit es dir gut geht? Was brauchst du, damit du gesund bleibst?

Die Antwort darauf ist für mich klar. Die Bedingungen sind ebenfalls völlig klar. Ich will an die Uni. Ich will ein normales Leben führen. Dafür brauche ich ein Zertifikat. Also schlucke ich es.

Dieses Zertifikat ist die Bedingung dafür, dass ich dabei sein kann. Und ich will dabei sein. Dabei sein an der Uni, dabei sein bei meinen Freund*innen, dabei sein bei der Arbeit, dabei sein in meiner Freizeit, dabei sein in meinem Leben. Ich brauche das Dabei-Sein. Es ist alles, was ich begehre. Ich will gesund bleiben. Ich will mich nie wieder so fühlen wie im September 2020 auf diesem Sofa. Und die Angst davor, dass sich die Dinge wieder ändern könnten, dass wir wieder daheim bleiben müssen und ich einen Rückfall haben könnte: Diese Angst ist für mich genauso real wie die Angst anderer Menschen, dass sie durch das Coronavirus erkranken oder durch das Zertifikat ihre Freiheit verlieren könnten.

Wie bereits zu Beginn gesagt: Dieser Artikel ist keine Pro- und Contra-Diskussion der Zertifikatspflicht. Ganz ehrlich, nach diesem Statement würde mich zu diesem Thema auch keiner mehr ernst nehmen. Es ist auch keine Empfehlung, es mir gleichzutun und sich von den Diskussionen darüber abzuwenden. Ich möchte bloss darauf hinweisen, dass es in dieser Diskussion nicht nur schwarz und weiss gibt. Hört einander zu. Seid freundlich, seid nachsichtig miteinander. Die Pandemie hat uns alle geprägt und wir haben alle unsere Gründe, Diskussionen zu führen oder nicht, für oder gegen etwas zu sein.

Wir sind wieder hier, wir sind wieder zurück. Und ich bin dankbar dafür, dass es so ist.

Zeen is a next generation WordPress theme. It’s powerful, beautifully designed and comes with everything you need to engage your visitors and increase conversions.