Luna Libido
Illustration: Darline Vainer, Digital Ideation, HSLU
Die Prüfungen sind vorbei, die Arbeiten abgegeben, vor mir erstreckt sich ein endloser Sommer. Ausflüge in die Region und kurz ins nahe Ausland bleiben das höchste der Gefühle. Kein einziges Mal schaffe ich es in die Reuss. Es herrscht entweder Hochwasser oder schlechtes Wetter. So sehr ich mich auf den Sommer gefreut habe, so hart zerbrechen meine Erwartungen am harten Boden der Realität. Irgendwann ziehe ich mich deshalb zurück in die digitale Welt. Ich lade Unmengen neuer Spiele auf mein Handy, und spiele davon auch die schlechtesten ganze Tage durch. Irgendwann lösche ich sie wieder alle. Dabei fällt mein Blick auf eine besondere App-Gruppe: Dating-Apps. Nach ein paar erfolglosen und frustrierenden Dates hatte ich sie letztes Semester irgendwann aus meinem täglichen Gebrauch gebannt. Aber jetzt, da sich keine spannendere Alternative bot, könnte ich ja wieder mal die Single-Bevölkerung durchswipen.
Es ist ernüchternd. Nach zwei Tagen habe ich das Gefühl, auf Tinder, OkCupid, Bumble etc. alle suchenden Menschen durchgeswipt zu haben. Mein Hirn ist unterfordert. Vielleicht deshalb fange ich an, die Profile mit anderen Augen anzuschauen. Eher so aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Und da tun sich plötzlich Welten auf: Neben der Korrelation von Autobildern und billigen Anmachsprüchen faszinieren mich die anonymen Profile immer mehr. In ihren Biografien lauert ab und zu die Abkürzung BDSM, manchmal ist von «rope bunnies» oder ähnlichem die Rede. Ich traue mich nicht, nach rechts zu swipen, aber mit der Zeit habe ich eine Sammlung an Bildschirmfotos zusammen. Eines fällt mir besonders ins Auge: Auf dem Bild ist ein Hinterkopf zu sehen, der sich gerade über bestrumpfte Füsse beugt. In der Bio steht: «lookin for used footwear, got a fetish».
Fetisch. Da ist das Wort. Auf Wikipedia ist dazu zu lesen: «Als sexueller Fetischismus wird in der Regel eine sexuelle Devianz verstanden, bei der ein meist unbelebter Gegenstand (vgl. Objektsexualität), der sogenannte Fetisch, als Stimulus der sexuellen Erregung und Befriedigung dient.» Es geht also in irgendeiner Form um die Abweichung von der Norm von Sexualität, womit die Fragen beginnen. Was ist denn die «Sex-Norm»? One-Night-Stands? Ehelicher Sex in der Missionarsstellung? Sex mit dem eigenen Geschlecht? All das fällt heute langsam nicht mehr aus der Norm, die Akzeptanz in der Gesellschaft wächst. Allerdings muss da gemäss zweitem Teilsatz auch ein Objekt sein, das uns zur Erregung dient. Nur aufgrund des gelegentlichen Gebrauchs meines Vibrators würde ich mich trotzdem nicht als Fetischistin bezeichnen. Man kann argumentieren, dass Sexspielzeuge nicht die Norm darstellen, verschlösse dann aber die Augen vor dem steigenden Umsatz von Amorana und Co.
Aus der Kombination zwischen Normabweichung und Objekt ergibt sich allerdings ein engerer Anwendungsbereich. Wir suchen also ein Objekt oder Körperteil, von dem sich nur wenige Menschen sexuell erregt fühlen. Meine Gedanken schwirren wieder zum Fussfetisch, dem Klassiker. In meinem bisherigen Sexualleben bin ich tatsächlich noch niemandem begegnet, der oder die speziell auf Füsse stehen würde. Eher im Gegenteil: Ich kenne vor allem Personen, die (öffentlich) ihren Ekel vor Füssen beteuert haben. Auf Nachfrage in meinem Umfeld stellt sich aber heraus, dass einige meiner Freund*innen schon Fussbilder von sich an Bekanntschaften verschickt haben oder ab und zu lange Fussmassagen oder Pediküren von ihren Liebsten bekommen. Interessanterweise gibt man diese Information aber eher in stabilen Beziehungen preis, als sich öffentlich zu outen. Dies impliziert also, dass es sich auch beim bekannten und verbreiteten Fussfetisch immer noch hauptsächlich um etwas von der Norm abweichendes und nicht akzeptiertes handelt.
Auf meiner Internetrecherche zu dieser Kolumne stosse ich auf weitere Fetische. Diese sind nicht annähernd so langweilig: Anscheinend gibt es Menschen, die auf Bären oder alles Bärartige stehen. Vielleicht hat es etwas mit dem Fell zu tun, denn ich finde auch Foren für Plüschfetischist*innen. Materialien scheinen allgemein beliebt zu sein: Seide, Holz, Leder, Latex, Gummi (inkl. Luftballone und -matratzen, aber auch Puppen). Eine weitere Kategorie besteht aus Körperteilen und Körperflüssigkeiten. Die Füsse sind da erst der Anfang, es folgen Nasen, Ohren und sogar Augäpfel. Die Flüssigkeiten erspare ich euch an dieser Stelle. Und dann haben wir noch die Kategorie «allerlei Sinnesempfindungen». Da fallen Musik oder das Anschauen von Unfällen darunter.
So, genug mit dieser endlosen Liste.
Kehren wir wieder zum Begriff «Fetisch» zurück: Gemäss meiner Quelle des Vertrauens stammt es aus dem portugiesischen «feitiço», was so viel heisst wie Zauber. Ich finde den Gedanken noch schön: Fetische als Dinge, die uns verzaubern. Wieso lassen wir es nicht einfach bei dieser Definition und streichen das «Abnormale»? So divers wie die Menschheit sind wohl auch unsere sexuellen Vorlieben und Sexualleben. Wessen Recht ist es denn, etwas als normal oder abnormal zu bezeichnen? Wie gesagt ist nicht alles abnormal, was nicht der Mehrheit entspricht. Wieso also Menschen nicht als die Individuen anschauen, die sie sind, mit ihren Eigenheiten, ihrem Lebensweg und ihren Präferenzen? Ich nehme mir vor, das wieder vermehrt zu leben. Und merke eine Woche später bei einem Bekannten im Bett schnell, dass die Frage «Und was verzaubert dich so?» die Kommunikation nicht erleichtert.