«Wir begeben uns in unsere digitalen Räume und verlassen unsere analogen Hörsäle», schreibt Rektor Bruno Staffelbach an alle Studierenden der Uni Luzern. Vier Tage später, am 16. März 2020, bleibt das Universitätsgebäude geschlossen. Im Rahmen eines soziologischen Forschungsseminars untersuchen daraufhin Studierende – selbst verunsichert ob der Situation – die Auswirkungen der Coronapandemie auf studentische Lebensstile an der Universität Luzern. Dabei stellt sich heraus: Nicht alle trifft es gleich. Wer Akademiker*innen als Eltern hat, ist im Vorteil. Ein Beitrag zum sozialen Kapital von Studierenden, und was die Mensa damit zu tun hat.
Hanna Hubacher, Soziologie
Foto: Fabienne Erni, Philosophie und Ethik
Wen fragst du, wenn du die Prüfungsinhalte nicht verstanden hast oder nicht weisst, welche Seminare du besuchen sollst? In wie vielen Whatsapp- oder Telegramgruppen mit anderen Studierenden bist du, wo Stellenanzeigen oder der neueste Klatsch und Tratsch verbreitet werden? Deine Antworten auf diese Fragen verraten wohl schon relativ viel über das soziale Kapital, über welches du verfügst. Soziales Kapital bemisst sich an deinen Kontakten und an den Kontakten deiner Kontakte. «Relationships matter» – so lässt sich das Konzept des sozialen Kapitals kurz und bündig zusammenfassen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sieht in Beziehungsnetzen eine bedeutende Quelle und einen Reproduktionsmechanismus von sozialer Ungleichheit. Wer über ein hohes ökonomisches und kulturelles Kapital verfügt – also Geld und Bildung –, der oder die hat oft auch einen erleichterten Zugang zu den «richtigen» Kontakten, welche die Akkumulation ebenjener Kapitalformen zusätzlich ankurbeln. Wer nicht darüber verfügt, ist doppelt benachteiligt. Wir haben es also mit einem klassischen Fall des Matthäus-Effekts zu tun: Wer hat, dem wird gegeben.
Auch im Studium, und das wird nun vielen bekannt vorkommen, erweist es sich oftmals als hilfreich, wenn man auf das Wissen und die Hilfe anderer Studierender oder Dozierender zurückgreifen kann. Gerade bei Studienanfänger*innen, so zeigt eine an US-amerikanischen Universitäten durchgeführte Studie, erhöhen breite Netzwerke an der Universität die Wahrscheinlichkeit, dass das Studium weitergeführt wird und gute Noten erzielt werden. Bedingung für ein solches Netzwerk ist allerdings, dass ein sozialer Kontext besteht, der Begegnungen und das Aufbauen sowie das Aufrechterhalten von Beziehungen erlaubt.
Die Bedeutung der Nebenschauplätze
Hier zeigt sich die Problematik der Schliessung des Universitätsgebäudes. Nicht nur bereitet das Studium viel weniger Spass ohne die gemeinsamen Pausen oder das ausgelassene Feierabendbier nach einem langen Uni-Tag. Die Grundlage für den Aufbau und den Erhalt eines sozialen Netzwerks an der Universität wird den Studierenden beinahe komplett entzogen. Die Einbussen des fehlenden Alltags im Universitätsgebäude scheinen sich gerade bei jenen zu zeigen, die zu Beginn des Lockdowns keine festen Netzwerke an der Uni etabliert hatten. Gerade sie sind auf die kurzen Pausen zwischen den Vorlesungen, die Interaktion mit der Sitznachbarin im Vorlesungssaal und die gemeinsame Zug- oder Busfahrt an die Uni angewiesen. Somit kommt es darauf an, wer sich vor dem Lockdown bereits ein stabiles Beziehungsnetz aufbauen konnte und über digitale Kanäle verbunden ist. Es zeigt sich, dass der erste Lockdown zwar alle Studierenden getroffen hat, aber nicht alle gleich stark.
Denn wer die Möglichkeit hat, in soziales Kapital – das heisst in soziale Beziehungen – zu investieren, hängt nicht lediglich von der Kontaktfreudigkeit der jeweiligen Person ab. Das Knüpfen von Kontakten ist auch eine Zeit- und somit Ressourcenfrage. Wer an ausgiebigen Mittagessen in der Mensa, abendlichen Sitzungen von universitären Vereinen oder nächtlichen Ausschweifungen an Studi-Partys teilnimmt und dort Beziehungen aufbaut oder festigt, hängt auch davon ab, wer sich Zeit dafür nehmen kann. Studierende der Universität Luzern, von denen kein Elternteil studiert hat, arbeiten mehr als doppelt so oft über einem Arbeitspensum von dreissig Prozent als Studierende mit Akademiker*innen-Eltern. Dies ergab eine repräsentative Befragung an der Universität Luzern durch eine studentische Forschungsgruppe des Fachbereichs Soziologie im Jahr 2019. Ungleichheiten zeigen sich auch bei der finanziellen Unterstützung. Fast jede dritte Person, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, erhält weder finanzielle noch sonstige materielle Unterstützungsleistungen von zu Hause. Bei Studierenden mit akademischen Eltern ist es nur knapp jede siebte Person.
Die spontanen und niederschwelligen Interaktionen mit anderen Studierenden oder Dozierenden scheinen gerade für erwerbstätige Studierende zentral zu sein. Dies kristallisierte sich in den im Rahmen unserer Forschungsarbeit durchgeführten qualitativen Interviews mit Studierenden im letzten Frühjahr heraus. In diesen wird der behandelte Stoff nochmals besprochen, Nachfragen werden geklärt oder Neuigkeiten ausgetauscht. Es sind diese institutionalisierten Zufälle, die die Möglichkeit für Begegnungen und soziale Kontakte schaffen. Der Universitätsbetrieb vor Ort bietet eine Gelegenheitsstruktur, die kein digitaler Zoom-Raum ersetzen kann, weil die Nebenschauplätze, die Nischen im universitären Geschehen, dort keinen Platz finden.
Aufenthalt verboten
Im vergangenen Semester haben Studierendenorganisationen versucht, eine Atmosphäre für soziale Begegnungen durch virtuelle Quiz-Nights oder digitale Bier-Meetups zu schaffen. Diese Form mag einen annähernden Ersatz für das analoge Biertrinken und Rätseln bieten. Ob ein solcher einmaliger Anlass die nebensächlichen und ungeplanten Aufeinandertreffen und die niederschwellige Kontaktaufnahme zu kompensieren vermag, ist hingegen fraglich. Und wer vor dem Lockdown schon nicht an freizeitlichen universitätsgebundenen Anlässen teilnahm, wird jetzt wohl kaum auf solche Angebote zurückgreifen. Wo bleibt der Ersatz für jene, deren soziales Kapital vom analogen universitären Alltag abhängig ist?
Nun, über ein Jahr nach unserem studentischen Forschungsprojekt, hat sich vieles geändert. Die Uni – oder zumindest gewisse Teile davon – ist für den Publikumsverkehr wieder geöffnet. In der Bibliothek und vor dem Gebäude treffen sich wieder bekannte Gesichter. Allerdings erstaunt, dass das Universitätsgebäude, anstatt wieder zu einem Ort des Aufeinandertreffens zu werden, grossflächig leer, abgesperrt und unbenutzbar bleibt. Während Restaurants und Bars längst wieder geöffnet sind und sogar Hochschulen wieder in den Präsenzmodus übergehen können, verharrt die Universität Luzern als unwirtlicher Ort mit rot-weissem Absperrband über jeder möglichen Sitznische, die Türen zu Mensa und Lichthof bleiben geschlossen.
Die Universität ist eine Institution, in die Exklusivität und Selektion bereits eingeschrieben sind. Ob die Eltern selbst studiert haben, ist noch immer ein entscheidender Faktor für den eigenen Zugang zur Universität. Will die Uni Luzern nicht auch noch jenen Studierenden, die es trotz erschwerten Bedingungen an die Universität geschafft haben, einen Nachteil verschaffen, wird sie sich überlegen müssen, wie Anlässe und Formate geschaffen werden können, mit denen Studierenden Gelegenheiten zum Austausch geboten werden. Das müssen nicht zwingend besonders ausgeklügelte Events sein. Es braucht lediglich eine Institutionalisierung der Begegnung, des Kontakts und des Austauschs, am besten im Rahmen des regulären Studiums. Den Raum und die Infrastruktur dafür sollte eigentlich das Universitätsgebäude bieten, mit all seinen Nischen, seinen Tischen und Stühlen und seinen Mikrowellen. Die Coronapandemie stellt zweifelsohne eine Herausforderung für dieses Unterfangen dar. Gerade in der Pandemie haben wir aber auch gesehen, was möglich ist, wenn die Uni muss. Je nach weiterem Verlauf der Pandemie scheinen Ansätze und Konzepte gefragt, die neben der Hygiene auch potenzielle soziale Ungleichheiten berücksichtigen.