Wahrnehmung beobachten: Die Spaziergangswissenschaft

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Bericht
Lesedauer
3 Minuten
Veröffentlicht am
4. Oktober 2021 im Print

Keine Angst, du hast dich nicht verlesen: Die Spaziergangswissenschaft, auch Promenadologie genannt, gibt es wirklich. Spazieren ist nämlich nicht nur eine Art sich fortzubewegen oder eine Freizeitbeschäftigung, sondern auch eine Wissenschaft.

Selina Meier, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften

Die Promenadologie, die Wissenschaft des Spazierens, wurde vom Schweizer Soziologen und Urbanist Lucius Burckhardt (1925-2003) entwickelt. Natürlich gilt sie als sehr junge Wissenschaft, aber es sollte berücksichtigt werden, dass das Gehen und das Spazieren schon lange Traditionen mit sich bringen.

Untersuchungsgegenstand der Promenadologie

Die Promenadologie verfolgt das Ziel, die Wahrnehmung der Umwelt bewusst zu machen und auch zu hinterfragen. Burckhardt beschreibt in seinem Buch Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, dass sich die Wissenschaft mit Sequenzen befasst, in der Betrachter*innen die Umwelt wahrnehmen. Anders als Literaturhistoriker*innen

interessieren sich Promenadolog*innen nicht für die Darstellung, sondern für den Spaziergang als Wahrnehmung selbst. Zudem beginnt man einen Spaziergang in der Regel mit einer gewissen Vorstellung, was das wahrgenommene Bild verändern kann. So soll die Wissenschaft gleichzeitig auch die Determiniertheit der Wahrnehmung aufzeigen.

Der Ur-Spaziergang

Der Ursprung dieser Wissenschaft war der sogenannte «Ur-Spaziergang in Riede», den Burckhardt mit seinen Studierenden der Universität Kassel im Jahr 1976 unternahm. Teilnehmende mussten einer vorgegebenen Route entlang spazieren und auf einer Karte – Burckhardt nannte sie die «lieblichen Orte» – eintragen. So kam ein Bild des Spaziergangs als Zusammensetzung von Strecke und Orten zustande, das von Burckhardt als Perlenkette beschrieben wurde. Danach entstand auf Basis seiner bisherigen Forschung zu Soziologie und Urbanismus die Promenadologie.

Jedoch wurde die Spaziergangswissenschaft erst 1990 erstmals formell erwähnt. An der Universität Kassel wird diese bis heute gelehrt und findet auch sonst in verschiedensten Formen Anhängerinnen und Anhänger. Zu nennen sind hierbei sicher Martin Schmitz und Bertram Weisshaar. Letzterer entwickelte das System der sogenannten «Talk-Walks». Dabei handelt es sich um Talk-Shows in Fortbewegung.

Die Wahrnehmung verändern

Die Menschheit ist heute so mobil wie noch nie. Flugzeuge, Züge und weitere Verkehrsmittel sind nicht mehr wegzudenken, was sich auf unsere Wahrnehmung der Umgebung auswirkt. Schon verschiedene Personen haben über diesen Diskurs nachgedacht, wie der deutsche Publizist und Historiker Wolfgang Schivelbusch in Bezug auf die Entwicklung der Eisenbahn. Burckhardt selbst weist auch darauf hin, dass die Landschaft zu dieser Zeit auf ein Postkartenbild zusammengeschrumpft ist. Worauf auch Schivelbusch sein 1977 erschienenes Buch «Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert» hinweist. Er beschreibt, dass sich mit dieser Entwicklung das Hier und Jetzt veränderte. Die Eisenbahn verband Orte miteinander, die zuvor noch abgeschieden waren. Zudem veränderte sich der Blick, denn wenn aus dem Fenster geschaut wurde, zog die Landschaft schnell an einem vorbei, was man so noch nicht kannte. Heute scheint diese Veränderung ziemlich unspektakulär. Wenn dies aber verglichen wird mit dem, was gesehen wird, wenn man spaziert, doch wahnsinnig. Burckhardt beschreibt allgemein die Wahrnehmung vor dem Zeitalter der Eisenbahn als eine vollkommen andere. Denn damals war der Weg noch so wichtig wie das Ziel.

Spazieren birgt eine lange Tradition

Mit dem «sich gehend fortbewegen» haben sich noch viele andere beschäftigt. Zu nennen ist sicher Walter Benjamin und seine Beschreibung des Flaneurs am Beispiel des Pariser Boulevard-Lebens im 20. Jahrhundert. Aber schon während der Französischen Revolution wurde die Forderung einer «Republik der Fussgänger» laut und in der griechischen Antike war die Bedeutung des Gehens sehr zentral: Die Stoa, ein überdachter Säulengang, war nämlich nicht nur Marktplatz, sondern auch ein Treffpunkt zum Flanieren und Plaudern.

Das Gehen und die Wahrnehmung davon sowie die der Umwelt scheinen nie an Aktualität zu verlieren. Zudem gibtes noch viele, hier nicht angesprochene, Themen, die zu berücksichtigen wären, wie der Zusammenhang der Wahrnehmung der Landschaft und Sprache oder die Stadt-Kritik. Bei Interesse für dieses Thema, empfiehlt sich das zuvor schon erwähnte Buch Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt, das hier als Primärquelle verwendete wurde. 

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