Es gibt zu wenig Raum für Leerstand

Format
Reportage
Lesedauer
4 Minuten
Veröffentlicht am
4. Oktober 2021 im Print

In den Jahren 2016 bis 2018 haben in der Stadt Luzern zahlreiche Hausbesetzungen stattgefunden. Das daraus entstandene autonome Zentrum Räzel zeigt auf, wie Leerstand in Räume für soziales Engagement umgewandelt werden kann. Am Beispiel Räzel lassen sich ausserdem neue Perspektiven auf Raum und Eigentum eröffnen.

Anton Kuzema, Philosophy, Politics and Economics
Design: Laura Kneisel, Vorkurs ZHdK

Das seit zwei Stunden hängende Banner mit der Aufschrift „Eigentum ist Diebstahl“ wird von einer verantwortlichen Person der Stadt Luzern vom Gebäude des Räzel gerissen. Die ironische Tatsache, dass Eigentum beschädigt wird, um das Konzept Eigentum zu schützen, bestellt Orte wie das Räzel.

Die autonome Einrichtung liegt am Freigleis und hat keine klassische Organisationsform oder Hierarchien. Die 200 bis 300 Personen, die über den Code für den Zutritt verfügen, räumen selbstständig auf und halten das Gelände instand. Viele davon kennen sich untereinander zwar nicht, sind aber in Kollektiven organisiert. Der Raum kann in Absprache mit dem einmal im Monat tagendem Plenum für verschiedene Zwecke genutzt werden. Im Plenum sitzen Personen aus den jeweiligen Kollektiven. Doch es kommen selten alle zur Plenumssitzung, vor allem weil nicht klar definiert ist, wer alle wären. Jede Beteiligung ist freiwillig und basiert auf eigenentwickeltem Verantwortungsgefühl.

Die Geschichte des Räzel beginnt im Frühling 2018 mit der Besetzung einer städtischen Liegenschaft an der Musegg. Die Beteiligten hatten die Intention, Räume für soziale Projekte zu schaffen. Auf das Androhen von rechtlichen Konsequenzen durch die Stadt Luzern folgt weder die Erstattung einer Anzeige, noch kommt es zu Polizeieinsätzen. Scheinbar ermüdet von den zwei vorangegangenen Jahren von Besetzungen innerhalb der Stadt äussert sich der Opportunismus der Verwaltung schliesslich in deren Kompromissbereitschaft. Die Verwaltung und die Besetzenden einigen sich auf einen Deal: Die Besetzenden verlassen per August 2018 die städtische Liegenschaft bei der Musegg und erhalten stattdessen das Gelände, auf dem heute das Räzel steht. Der Umbau beginnt im Februar 2019. Er versetzt das Räzel in den Zustand, in welchem es heute in der Nähe der Messe steht.

Seitdem halten verschiedene Kollektive und Gruppierungen Sitzungen im Räzel ab, veranstalten das Sprachkaffee, Deutschkurse, bieten Zugang zu Lebensmitteln der Schweizer Tafel, betreiben den Gratisladen und parken eine Bibliothek (siehe Bild). Die Veranstaltungen finden regelmässig statt und erschaffen damit ein spürbares Gemeinschaftsgefühl. Der Terminkalender ist allerdings nie ausgefüllt. Das Räzel bietet Raum auch im Sinne von Zeit. Der Anschluss von weiteren Projekten bleibt stets möglich.

Der Ort tritt wie ein Nebenprodukt der hier entstehenden Ereignisse auf. Er ruht, bis etwas, das den Raum benötigt, einen Teil davon einnimmt und somit das Räzel weiter belebt. Es wirkt wie ein Verkehrsknotenpunkt, der ohne die durchführenden Linien irrelevant wäre. So ist beispielsweise der Gratisladen die Strasse runter vom Eichwäldi ins Räzel gezogen und wird nun von der mobilen kämpferischen Bibliothek Lotte betreut, deren Schichten unter anderem von anderen Kollektiven freiwillig besetzt werden. 

Kämpferische Literatur im Garten 

Die Literatur, welche in der Lotte ausgeliehen werden kann, ist bezeichnend für den Raum, der geboten wird. Das Repertoire, welches gespendet wird, fördert feministische, anti-rassistische, anti-kapitalistische Werke und Autor*innen, welche in klassischen Bibliotheken keinen Platz finden würden. Kämpferisch ist also nicht zwangsläufig nur der Inhalt, sondern vor allem auch die Methode. Durch die Einbindung der Leserschaft korrigiert sich die Auswahl der Bibliothek selbst. Dabei werden die Ausleihenden gebeten, ein Feedback zu problematischen Inhalten zu geben, zur Einschätzung dessen zu verhelfen, um gegebenenfalls aussortieren zu können. Ähnlich verhält es sich mit den im Manifest des Räzel formulierten Sitten und Zielsetzungen. Solidarität, Anti-Diskriminierung, Revolution für ein besseres Morgen. Wie das gelingen kann, gestalten die Menschen, die im Räzel mitwirken. 

Leerstand ist erweiterter Diebstahl 

Bis jetzt konnte nur das Zusammenwirken mit der globalen Umweltbewegung Extinction Rebellion wegen ideologischen Differenzen nicht zustande kommen. Die Ansichten über hierarchische Strukturen und die Rolle des Justizsystems waren zu unterschiedlich. Nach einigen Gesprächen hatte sich das Vorhaben beidseitig aufgelöst. 

In dem Zusammenhang wird deutlich, was es heisst, ein „Vorgriff auf eine Zeit (…) zu einer anderen, einer besseren Welt“ zu sein, wie es einprägsam im Manifest des Räzel formuliert wird. Denn die Dynamik des Raumes entsteht unter anderem auch dadurch, dass sie erkämpft werden muss. So heisst erkämpfen in vielen Fällen auch bekämpfen, auch wenn der Kampf in einer einvernehmlichen Diskussion stattfindet. Kein Raum, keine Möglichkeit ist frei von Machtstrukturen, so schön es klingen würde. Machtstrukturen werden aber erst problematisch, wenn sie pathologische Züge annehmen. Das Räzel zeigt eindrücklich, dass sich Dogmen und das Schaffen von gesundem Raum nicht widersprechen. Vielleicht sogar, dass sich beides gegenseitig bedingt. 

Das Räzel und andere ähnlich entstandene Orte lassen Leerstand wie nicht realisierter Raum, also nicht genutzte Möglichkeiten wirken und schaffen es, das geläufige Verständnis von Eigentum auf die nächste Stufe zu heben.

Das königliche Gesetz 

Im Fall des Räzel zeigt sich, dass Eigentum und der entsprechende Raum nicht immer in Verbindung miteinander stehen müssen, oder zumindest nicht in unserem gängigen Verständnis davon. Es besteht ein Vertragsverhältnis zwischen zwei Personen und der Stadt Luzern. Somit ist das Räzel theoretisch gesehen weiterhin Eigentum der Stadt und momentan im Besitz der besagten Personen. Doch faktisch gesehen wird der Raum nicht als solches verwendet und die Stadt hat keine realistischen Aussichten, das Gebäude durch die Auflösung eines Vertrags mit Besetzenden wieder zu erlangen. Die Personen würden das Gebäude wohl kaum freiwillig verlassen. Das wird auch der Stadt Luzern bewusst sein. Somit ist der Vertrag, welcher im Übrigen keine Kosten für die nutzenden Personen beinhaltet, eine inhaltslose bürokratische Geste. Denn welchen Wert hat die rechtliche Herrschaft über das Gelände für die Stadt, wenn sie es nicht nutzen kann?

In diesem Fall ist der Wert, den Konflikt mit den Besetzenden zu schlichten. Eine denkbar unübliche Weise, Eigentum zu verwenden. Das Gelände befindet sich in einer Art Schwebezustand, was den Eigentumsanspruch angeht und zweckentfremdet somit die eigentliche Intention davon. Die Freigabe des Räzel an Menschen, die den Raum nutzen wollen, verändert vor allem die Bedingungen, unter welchen Raum genutzt werden kann. Das Manifest des Räzel ersetzt finanzielle Möglichkeiten oder staatliche Interessen. Es zeigt auf, dass ein öffentlicher Raum auch ohne den Einsatz von Polizei und potentiellen Sanktionen funktionieren kann. Denn staatliche Instanzen können nicht ohne weiteres eingreifen, da das Räzel rechtlich gesehen Privatbesitz ist. Aber ist es das wirklich? 

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