Die Uni als Gemeinschaftsküche

Format
Rezept
Lesedauer
5 Minuten
Veröffentlicht am
1. März 2021 im Print

Ein Rezept für die Erstellung und Publikation eines studentischen Sammelbandes zum Thema Food Waste.

Kathrin Rietze & Eliane Ruesch, Gesellschafts- & Kommunikationswissenschaften
Illustration: Noemi Wolf, Gesellschafts- und Kommunkationswissenschaften

Die Küche ist ein Ort des Lernens und des Wissens. Über Jahrhunderte und Generationen hinweg wurden Rezepte entdeckt, erfunden, weitergegeben und verfeinert – teilweise ohne sie schriftlich festzuhalten. Es ist unmöglich, sich die endlose Menge an Kombinationen, wie Nahrungsmittel in wenigen Schritten oder in Form geheimer Familienrezepte vermischt und verarbeitet werden können, überhaupt vorzustellen. 

Dazu ist die Küche ein gesellschaftlicher Ort. Jeder Mensch muss essen, über alle Zeitalter und Kulturen hinweg. Es kann laut werden, heiss oder hektisch, vor allem mit zusätzlichen Köch*innen oder Besucher*innen vor Ort. Gemeinsames Planen und Vorbereiten, Einlegen und Pökeln, Braten und Kochen, Essen und Geniessen sorgen in der Küche für ständige Betriebsamkeit.

Digitaler Friedhof der Seminararbeiten 

Im Vergleich mit einem klassischen Ort des Wissens, wie die Universität, steht die Küche für viele Menschen deutlich näher am Leben. Es gibt jene, die bezeichnen den Alltag von Studierenden und die Universität als «lebensfremd» oder «fern von der Realität». Manchmal haben sie nicht unrecht. Es werden viele Theorien gelesen, über Konzepte diskutiert und Seminararbeiten geschrieben, die nach der Vollendung für immer im Ruhestand landen – dem digitalen Friedhof namens Archivordner – und vergessen gehen. Diese Diskussion taucht immer wieder auf und die kritischen Stimmen sind sowohl inner- als auch ausserhalb der Hochschulen angesiedelt. 

Deswegen ist es für uns umso erfreulicher, hier von einem studentischen Projekt zu berichten, das nicht auf dem digitalen Friedhof geendet hat. Nachdem es über mehrere Semester in der Uni als Gemeinschaftsküche zubereitet und «gebacken» wurde, wird es nämlich der breiten Öffentlichkeit serviert: Ein studentischer Sammelband mit verschiedenen Forschungsarbeiten zum Thema Food Waste.

Ein Projekt also, welches im Vergleich zur Mehrheit unserer restlichen akademischen Laufbahn nicht näher an der Praxis angesiedelt sein könnte. Ein Projekt, dessen Resultat sich zeigen lässt. Und da sich das Projekt erstens um Food Waste dreht und zweitens nicht das einzige seiner Art bleiben soll, berichten wir gerne über unsere Erfahrungen und verfassen ein Rezept für nachfolgende Generationen, die in der Gemeinschaftsküche namens Universität aktiv sind. 

Rezept für einen Sammelband

Haben Sie schon mal einen Zopf gebacken? Falls ja, sind Sie mit den Grundlagen unseres Rezeptes vertraut. Was das Zeitmanagement angeht: Zur Zubereitung des «Teiges» benötigten wir zwei Forschungsseminare über zwei Semester, aber gesamthaft Durchhaltewillen für vier Semester, sprich für zwei Jahre. Während dieser Zeit wurde der metaphorische Teig zubereitet, gekostet, neu angesetzt und verbessert. Damit er genügend Zeit hatte, um aufzugehen, wurde er wiederholt für ein paar Wochen und Tage in die Überarbeitung (ins Lektorat) geschickt. Schlussendlich wurde er in Teigstränge (Buchkapitel) geteilt, zum Zopf (Sammelband) geflochten, mit Eigelb (Titelbild, Feedback vom Lektorat, finale Druckfahne) bepinselt, damit er beim Backen die schöne Farbe erhält, und in den Backofen geschoben (in den definitiven Druck gegeben).

Zutaten
Ergibt: 1 studentischen Sammelband
Gesamtzeit: 4 Semester

Teig
1 engagierte*r Dozent*in
9 motivierte Studierende im Rahmen eines zweiteiligen Forschungsseminars
8 Forschungsmethoden
39 Forschungsideen

Aufgehen und Bestreichen
1 Universitäre Lehrkommission der Universität Luzern (ULEKO)
1 Silbergrund-Stiftung (als finanzielle Unterstützung) 
1 Studierendenorganisation der Universität Luzern (SOL)
1 Soziologisches Seminar der Universität Luzern
1 Leiter des Soziologischen Seminars der Universität Luzern
1 Lektor
3 Titelbild-Ideen
1 Verlag

Und so wird‘s gemacht… 

Für den studentischen Sammelband-Teig nehme man zuerst die neun Studierenden (Mehl) und mische sie in einem zweiteiligen Forschungsseminar mit ihren 39 Forschungsideen (Milch) und acht Forschungsmethoden (Butter). Dann gebe man die engagierte Dozentin (Hefe) dazu und knete die Zutaten während zwei Semestern zusammen. Es entsteht die Projektidee (ein glatter Teig), als motivierte Gruppe vereint etwas zu publizieren. 

Vor dem anschliessenden Aufgehen lassen – dies erstreckt sich über zwei weitere Semester – darf man aber nicht vergessen, das Projekt (den Teig) mit finanzieller Hilfestellung verschiedener Institutionen (ULEKO, SOL, Silbergrund-Stiftung) zu sichern (bedecken) und ihn mit Unterstützung des Seminarleiters an einen warmen Ort zu stellen. Ohne diese Faktoren kann sich die Idee nicht entfalten (sprich, der Teig könnte nicht aufs Doppelte aufgehen, auch wenn man ihn zuvor schön geknetet hat) und auch nicht von einem Verlag angenommen werden. 

Hat man dies alles befolgt, ist die Entstehung des Sammelbandes (des Zopfes) finanziell abgesichert und bereit dafür, in die verschiedenen Beiträge (Teigstränge) aufgeteilt zu werden. Man teile also den Teilnehmenden ungefähr gleich lange Kapitel zu (ca. 20 Seiten pro Student*in, sprich ein Strang aus Teig) und lasse diese ihren Text (Stränge, die an den Enden dünner werden) formen. Anschliessend flechte man die 10 Kapitel zu einem Sammelband (Zopf) und gebe die erste Version ans Lektorat ab (legt den Zopf auf ein mit Backpapier belegtes Blech). Ein paar erste Titelbild-Ideen und das Lektorats-Feedback (erstes Eigelb) kommen dazu, und schon sieht die erste Rohfassung gar nicht mehr so roh aus (den Zopf damit bestreichen, damit er später Glanz und Farbe erhält). 

In dieser Zeit entwickeln sich die Kapitel (Teigstränge) im Sammelband (Zopf) nochmals weiter und werden ständig verfeinert und überarbeitet. Danach bestreiche man den Sammelband (Zopf) noch mit der finalen Korrektur und dem finalen Titelbild (zweites Eigelb) und gebe ihn endlich an den Verlag in den Druck (Backofen), wo er für gut zwei Monate bäckt. Bei diesen rund 200 Grad wird es richtig heiss für alle Beteiligten (sämtliche Zutaten im Teig), da es nun kein Zurück mehr gibt und alle hoffen, dass das Gemeinschaftswerk in einer schönen Publikation (Zopf) resultiert. Und gleichzeitig wissen alle, dass man es ohne die anderen nicht bis zu diesem Punkt geschafft hätte.

Ist der Sammelband (Zopf) dann fertig gedruckt und veröffentlicht (gebacken), sollte man ihn zuerst abkühlen lassen, weil die Erinnerungen an das anstrengende Schreiben und Korrigieren (das Backen) noch zu frisch sind. Anschliessend kann man das Werk (Zopf) für seinen Inhalt, Glanz und seine Farbe bewundern und stolz Familie und Freunden präsentieren. Die Mühe hat sich gelohnt! 

Hat man den Sammelband dann mal durchgelesen oder hat er ein paar Kaffeeflecken, ist das kein Grund, ihn wegzuschmeissen – das wäre viel zu schade, denn auch ein hartes Zopfbrot ist noch nicht gerade für den Abfalleimer bestimmt. So hatte der lange Schreibprozess (Zubereitungs- und Backzeit) zum Thema Food Waste auch einen nachhaltigen Effekt auf uns persönlich, sodass wir unsere eigenen Essgewohnheiten hinterfragten.

Indem wir nun einen selbst erarbeiteten Sammelband, aka einen selbstgebackenen Zopf servieren können, erhoffen wir uns, dass sich viele eine Scheibe davon abschneiden können und selbst dazu inspiriert sind, entweder ihre Arbeiten aus dem digitalen Friedhof hervorzuholen und zu publizieren oder ihr Ess- und Kaufverhalten zu überdenken.

Backtipps

Diesen Tipp kann man in jedem Schritt der Zubereitung und Backzeit anwenden: Statt Prokrastinieren frühzeitig anfangen für weniger Stress, damit der Teig auch genug Zeit zum Aufgehen hat. Daran anknüpfend: Sich regelmässig mit den Mit-Bäcker*innen austauschen, um die Motivation hoch zu halten, das Rezept zu vergleichen und aufeinander stimmig zu planen. Dabei tauchen eventuell Gedanken wie «Das kriegen wir niemals gebacken» auf. Das kann zwar vorkommen, wird aber nur so lange geduldet, bis sie dem törichten Sprechenden wieder ausgetrieben wurden. Und schlussendlich: Niemandem erzählen, wann der Zopf fertig ist, denn das Backen geht garantiert länger, als du zuerst gedacht hast. 

Zum Sammelband

«Wenn Food Waste sichtbar wird: Zur Organisation und Bewertung von Lebensmittelabfällen», ein Sammelband von Luzerner Masterstudierenden unter der Leitung von Dr. Nadine Arnold, erforscht Möglichkeiten für einen neuen gesellschaftlichen Umgang mit Food Waste. Der Sammelband erscheint voraussichtlich im Februar 2021 im transcript Verlag und kann hier bestellt werden.

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