Nackte Zahlen: der letzte Schrei oder Sirenen der Sicherheit?

Format
Bericht
Lesedauer
6 Minuten
Veröffentlicht am
1. März 2021 im Print

Vom Verhältnis von Statistik zu deren (Un)Sicherheit in der Pandemie

Die Ausrufung der Corona-Pandemie jährt sich in diesen Tagen. Es war ein Jahr der Unsicherheit, das uns vor allem eines gezeigt hat: In Situationen des kollektiven Kontrollverlustes bieten Zahlen Halt – auch, wenn nicht immer klar ist, wie diese zu interpretieren wären. Ein Essay zu Tücken und Lücken in der Zahlenflut.

Jonathan Biedermann, Dominik Walter & Léonie Hagen
Philosophy, Politics & Economics

Illustration: Selina Nguyen, Politikwissenschaften

Die Aussicht auf festen Boden. Die Rückkehr zur Normalität. Bereits seit vergangenem April versuchen Politik und Medien die Flucht aus dem Ausnahmezustand zu antizipieren. Aber er hält an – sein Ende wird halt doch eher in die als in den Sternen gelesen, so dass die Ausnahme selbst beinahe zur Normalität wurde.

Der Ausbruch der Pandemie im Winter 2019/2020 löste eine Welle der Unsicherheit aus. Die schwierigen Wasser, in welchen Menschen heute manövrieren, verlangen nach entsprechenden Instrumenten. Zurecht findet sich nämlich nur, wer um die Beschaffenheit dieser Wasser weiss.

Und wer Sicherheit schaffen will, bedient sich vornehmlich der wissenschaftlichen Mittel und deren Übersetzung durch Medien. Hier finden sich Zahlen, Statistiken, Grafiken ebenso wie daraus entstehende Interpretationen, Verbote und Gebote, Hilfestellungen und Prognosen. Neben zahlreichen Anhaltspunkten bergen diese auch grosse Herausforderungen und Tücken. 

Wenn Statistik zur Glaubensfrage wird

Tagein, tagaus betet die Berichterstattung Zahlen herab – ohne einen Gedanken an die Unsicherheit zu verschwenden, die ihnen anhaftet.  Kennwert an Kennwert bildet sie einen Rosenkranz der Statistik. Der Versuch, gewisse Aspekte der Pandemie greifbar zu machen, mündet in einer Beschwörung der Kontrollierbarkeit, als liesse sich die Katastrophe durch die tägliche Anrufung der Todes- und Fallzahlen bannen: Politische Entscheidungsprozesse gleichen dem Orakel von Delphi. Zahlen werden zur ultimativen Glaubensfrage, die Statistik zur Schutzheiligen – oder zum Dämon, dem es zu widerstehen gilt.

Die Verwendung der Statistik ist in Situationen der Unsicherheit nicht per se ein Problem. Insbesondere zu Beginn der Pandemie lagen noch zu wenig Daten vor, die etwa eine zuverlässige Schätzung der Letalität zugelassen hätten. Die Letalität drückt die Wahrscheinlichkeit aus, dass eine Corona-Infektion tödlich endet. In Situationen grosser Unsicherheit müssen Entscheidungsträger*innen trotz möglicher Fehler auf Schätzungen vertrauen. Sie sind das einzige, was Anhaltspunkte bietet. 

Problematisch wird es dann, wenn statistische Grössen nicht mehr nur als Entscheidungsgrundlage dienen, sondern auch verschiedene Eingriffe gegenüber der Öffentlichkeit legitimieren sollen. Denn dann muss die Unsicherheit ausgemerzt werden, in der Hoffnung, Vertrauen in die Entscheidungen zu stärken. Dumm nur, dass sich die als sicher vermarkteten Kennwerte – wie im Fall der Letalität – mit zunehmender Datenmenge an ihren wahren Wert nähern und sich dadurch im Nachhinein verändern. Die Unsicherheit holt uns ein. Und untergräbt die Legitimität der Entscheide, die durch ihr Ausblenden vertreten wurden.

Auch Zahlen stehen nicht im leeren Raum

Die Bedeutung des Glaubens wird umso mehr betont, wenn das Verständnis für die Ursprünge und Entstehung genannter Zahlen fehlt. Statt zu versuchen, die (durchaus vielfältige und komplex gestaltete) Datenerhebung auch nur ansatzweise zu verstehen, ranken sich zahllose Sagen um die Geburt der Rettung in der Not. Beträchtliche Probleme –   zum Beispiel eine «schlüssige repräsentative Grundgesamtheit zur Verwendung des R-Werts» – landen abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Diese befasst sich lieber mit mythischen Haarspaltereien, etwa mit der Frage «WeR sTiRbT dEnN nUn MiT oDeR aN cOrOnA». 

Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen von einer infektiösen Person durchschnittlich angesteckt werden. Im Winter 2020 glaubten viele Entscheidungsträger*innen daran, dass ein Bonus-Malus-System auf Grundlage des R-Werts legitim und sinnvoll sei – ohne Rücksicht darauf, dass die Berechnung des R-Werts mit sehr viel Unsicherheit einhergeht. Anhand dieser Zahl wurden und werden immer noch Entscheidungen gefällt, die unsere und die nächste Generation belasten. Ein kleiner Berechnungs- oder Messfehler, eine falsche Annahme, eine ungenügende Stichprobe, und aus dem R-Wert werden fehlgeleitete Schlussfolgerungen gezogen mit beträchtlichen Konsequenzen.

Natürlich ist in stürmischen Zeiten ein ungenauer Kompass hilfreicher als gar keiner. Trotzdem ist es wichtig, dass wir wissen, woher der Kompass weiss, in welche Richtung er zeigen soll. Nur so können wir beurteilen, warum und inwiefern er manchmal unzuverlässig ist.

…und auf einen Schlag sind wir alle Expert*innen

Sagen und Mythen haben es so an sich: Jede*r Kommentator*in will die wahre Geschichte mit eigenen Augen gesehen haben. Eine Vielzahl an fehlerhaften Interpretationen und Schlussfolgerungen schwirren trotz zahlreicher Gegenstimmen herum. Am lautesten sind jene Stimmen zu vernehmen, die sich mit den Massnahmen zur Verringerung der Ansteckungsrate ihrer Freiheit beraubt sehen. «Es sterben ja noch lange nicht so viele wie zu Beginn angenommen», oder: «Die Spitäler sind ja gar nicht überlastet, auch nicht jetzt in der zweiten Welle, wo die Ansteckungsrate viel höher ist als in der ersten.»

Diese nach Stammtisch anmutenden Aussagen kommen überraschenderweise auch aus der Ökonom*innen-Ecke. Zuletzt die Augenfälligkeit der Öffentlichkeit genossen: Der Luzerner Gesundheitsökonom Konstantin Beck, Mitverfasser des Buches «Corona in der Schweiz: Plädoyer für eine evidenzbasierte Pandemie-Politik». Als ihn die Journalistin Sabine Kuster für ein Interview im St. Galler Tagblatt konsultierte, kleideten so einige wissenschaftliche Fettnäpfchen seine Füsse.

Auf Kusters Frage, was getan werden soll, wenn die Intensivstationen unter Druck stünden, antwortet Beck: «Covid-Patienten sind im Durchschnitt 14 Tage auf der Intensivstation. Das heisst, wenn täglich eine konstant hohe Zahl an Patienten reinkommt, können nach 14 Tagen auch so viele wieder entlassen werden oder sie sterben.» – also nichts, wie es scheint. Dem Gesundheitsökonomen ist offenbar entgangen, dass es sich bei einer Pandemie nicht um gebrochene Beine, sondern um sich exponentiell verhaltende Ansteckungen geht.

Tatsächlich ist aber die Aussage, die Massnahmen seien angesichts der nicht eintretenden Überlastung der Spitäler trotz höherer Infektionsrate eine Fehlinterpretation von Zahlen. In ihrem Artikel berichtigt Kuster die Basis für Becks falsche Schlussfolgerungen: Zunächst seien die Infektionsraten der zweiten Welle auf dem Papier nur deshalb höher als jene der ersten, weil mit der Zeit mehr Infektionen entdeckt werden konnten. Wenn während der ersten Welle noch eine von zehn Infektionen entdeckt wurde, sei es heute die Hälfte. Im Frühjahr hätte es in Tatsache gar mehr Infektionen gegeben als zur Zeit der Verfassung  des genannten Artikels (Dezember 2020). Hinzu kämen die Umstände, dass zu dieser Zeit die Infektionsrate von Älteren noch nicht angestiegen sei und überdies die Therapien in den Spitälern besser wurden.

Zahlen können kein Deutsch

Das fehlende Bewusstsein für die Unsicherheit statistischer Instrumente, das mangelnde Verständnis für den Kontext der Zahlen und die daraus entstehenden Fehlinterpretationen lassen sich auf ein Kernproblem zurückführen: Die inflationäre Publikation nackter Zahlen. 

Eifrig werden Zahlen in Push-Nachrichten, Schlagzeilen und Grafiken verpackt, im Glauben, sie könnten für sich selbst sprechen. So zimmert sich ein*e jede*r eine eigene Geschichte aus dem, was wir aus Statistiken zu hören glauben. Es entwickeln sich Narrative fernab aller statistischen Zumutbarkeit, die nur vermeintlich belegbar sind. Objektifiziert und nahezu wehrlos stehen die Ziffern im Raum, der Willkür der Leser*innen ausgesetzt.  

Ab März 2020 wurden täglich die absoluten Fallzahlen verkündet und so gut wie überall publiziert. Hinweise darauf, was die Bevölkerung aus diesen Zahlen herauszulesen hätte, fehlten. Als Reaktion auf die allgemeine Verwirrung wurden lediglich zusätzliche Kennwerte publiziert. Die mit einer Flut an vermeintlicher Wissenschaftlichkeit geschürte Panik wich einer breiten Skepsis, als das Publikum der betäubenden Zahlenmenge müde wurde und sich auf die – zu dem Zeitpunkt ebenfalls mehrheitlich unkommentiert veröffentlichten – Mortalitätsstatistik des Bundesamts für Statistik konzentrierte. 

Noch im Dezember 2020 zeigte der Newsticker des SRF Nachrichten, die lediglich die absoluten Fallzahlen der Woche, den 7-Tages-Trend und den aktuellen R-Wert aufzählen. Natürlich sind diese Zahlen bei einer genaueren Suche (insbesondere beim SRF) nachvollziehbar dargelegt. Doch die Hauptmeldung besteht weiterhin aus einer unkommentierten Zahlenreihe. Die Erklärungen sind lediglich zur Vertiefung vorhanden, gehören aber offenbar immer noch nicht zum Kern der Berichterstattung. 

Wie können Entwicklungen begleitet werden?

Klar, der mediale Umgang mit statistischen Grössen und deren Nachvollziehbarkeit veränderte sich über das vergangene Jahr hinweg. Die kritische Auseinandersetzung mit möglichen Fehlern in der Berichterstattung hat allerdings nur begrenzt stattgefunden. Vielmehr wirkt es, als hätten wir mit einem halb leeren Tipp-Ex einmal über vergangene Texte geschmiert, um nun die korrigierten Versionen zu verwenden, ohne die Probleme explizit angesprochen zu haben.

Zwar wurden alte Kennwerte mittlerweile durch neue und besser nachvollziehbare Grössen ersetzt. Doch was nützt das, wenn niemand erklärt, warum der R-Wert nun auf einmal so relevant sein soll, wenn er es zuvor nicht war? Auch das Bewusstsein für die Relevanz von Trendrechnungen entsteht nicht allein dadurch, dass sie die fanatische Aktualisierung täglicher Fallzahlen ersetzen. Nicht nur das Was-kann-mir-dieser-Wert-sagen, sondern auch das Warum-dieser-und-nicht-jener-Wert-relevant-ist, bedarf einer Erklärung.

Vielmehr bräuchte es einen Prozess, welcher frühere Fehler und Missverständnisse erklärt und darlegt. Ansonsten laufen wir Gefahr, von immer neuen Wellen der Wissenschaftlichkeit erfasst und überwältigt zu werden – ohne den daraus entstehenden Problemen entkommen zu können. Was wir nun (dringender denn je) brauchen, ist eine Berichterstattung, die Datenkompetenz statt einer Datenflut verfolgt. Ansonsten geraten wir nur vom Regen in die Traufe.

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