Wiedereröffnung – das Ende des Corona Tunnels oder doch nur ein entgegenkommender Zug?

Bild: Jonathan Biedermann, 17. Juni 2020
Format
Essay
Lesedauer
7 Minuten
Veröffentlicht am
1. März 2021

Endlich durchatmen. Lockdown weg, Lernplätze offen, Pandemie vorbei. Oder? Die Unsicherheit begleitet uns weiter. Die Retro-Utopie «Zurück zur Normalität» gefährdet einen Ausweg aus der Pandemie eher als sie selbst einen darstellt. Ein Essay über die Unsicherheit, den Lockdown und die bürgerliche Willkürherrschaft über den öffentlichen Diskurs.

Jonathan Biedermann, Philosophy, Politics and Economics

Die Bibliothek lässt mich ab dem 01. März 2021 die dicken Schinken für meine Seminare wieder an einem ihrer weissen Tische lesen. Und die kleinen Tischlampen, deren Lichtkegel sich nur durch das Verschieben des gesamten Lichtapparates ausrichten lassen, freuen sich schon auf meine Karteikarten, die ich in der Prüfungsphase bis spät abends unter ihnen hin und her wenden werde.

Dass die Bibliothek ihre Lernplätze öffnet, erhellt die Perspektive auf ein gewohntes Semester(ende): Kaffee mit meinen Mitstudierenden im Lichthof; das Mittagsmenü der Mensa; der kurze Schwatz auf der Treppe im Unigebäude. Endlich kehrt wieder «Normalität» ein. Und mit den Lernplätzen in der Bibliothek kann das Studium endlich wieder in geordneten Bahnen verlaufen. Der 01. März ist ein Lichtblick.

Der Lichtblick ist verlockend. Er verlockt dazu, die kurzfristig eingeschlagene Richtung (die verbesserten pandemischen Umstände, die Lockerung der Massnahmen, die Öffnung der Arbeitsplätze in der Bibliothek) als Zeichen für bessere Zeiten oder gar als Bestätigung für einen definitiven Weg der Besserung zu interpretieren.

Ist die Wiedereröffnung das Licht am Ende des Corona-Tunnels? Oder ist es doch nur ein entgegenkommender Zug?

Zu früh gefreut?

Ernsthaft: Normalität, geordnete Bahnen? Wir erinnern uns doch alle an die Zeit vor knapp einem Jahr: Auf die Schockstarre im Lockdown folgte die Hysterie im Ausblick auf dessen Aufhebung. Sterberate halb so schlimm, Fallzahlen halb so wild. Alle redeten eifrig von einer Rückkehr zur Normalität. Den Zustand vor der Pandemie deutete man als durch die Pandemie kurz ausgehebelten Soll- und Kann-Zustand. Sobald die Fallzahlen sinken, würde alles wieder wie gehabt werden.

Mittlerweile hat uns das Virus eines Besseren belehrt: Die heissen Sommertage an der «Ufschötti» mit tiefem Ansteckungsrisiko waren nicht Ausdruck der Besserung, sondern die Vorbereitung eines Höllenherbstes. Die Fallzahlen schnellten hoch, die Spitalbetten füllten sich, der Bundesrat verordnete «Lockdown II». Der präpandemische Zustand stellte sich als Utopie heraus.

Der Bundesrat und die Willkür

Wirtschaftspolitiker*innen möchten sich nach wie vor in der Rolle von Pandemieexpert*innen sehen. Bei der SVP rief der damalige Parteipräsident Albert Rösti bereits im Mai 2020 zum Kampf gegen die «Alleinherrschaft des Bundesrates» auf. Heute führt ihn Fraktionspräsident Thomas Aeschi ohne Rücksicht auf Verluste und unbeantwortete Fragen fort. «Zurück zur Normalität» benennt Benjamin Fischer, Kopf der SVP Zürich, das Ziel seiner Partei für das Jahr 2021. Und in der Privatwirtschaft steigt die innere Unruhe über das Geschäftsjahr 2021 etwa Magdalena Martullo-Blocher zu Kopf, die nun lauthals die Öffentlichkeit terrorisiert – ebenfalls im Namen eines anscheinend demokratischen Kampfes gegen eine anscheinende Diktatur des Bundesrates. Dass die Diktaturvorwürfen willkürlich sind, zeigte Republik-Journalist Daniel Binswanger in seinem Artikel vom vergangenen Samstag, 28. Februar.

Während die Schweiz vom bürgerlichen Übereifer eingenommen wird, mutiert das Virus munter vor sich hin. Ehe die Impfung Verbreitung findet und die Ansteckungsraten neuer Virusvarianten bestimmt werden können, tauchen wieder neue auf und verbreiten sich. Das ist auch der Grund, weshalb Patrick Mathys, Leiter der Sektion Krisenbewältigung beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) noch anfangs Februar vor Lockerungen warnte – sinkende Fallzahlen hin oder her. Die Strategie, Geduld zu haben und keine voreiligen Schüsse zu ziehen, überstand den Februar nicht:

  • Zunächst verkündete der Bundesrat am 17. Februar den Beschluss für erste vorsichtige Lockerungen ab 01. März. Die Strategie: risikobasiert und schrittweise. Das hiess damals in einem ersten Schritt Läden, Museen, Zoos, Lesesäle sowie Sportanlagen im Aussenbereich öffnen, in einem zweiten die Situation neu evaluieren und am 24. März Beschlüsse über zusätzliche Lockerungen ab dem 01. April zu fällen.
  • Definitive Aussagen über die konkrete Ausgestaltung folgten nach Konsultation der Kantone am 24. Februar. Die Strategie blieb hier dieselbe: risikobasiert und schrittweise. Neu hiess dies allerdings, die neuen Beschlüsse auf den 19. März sowie das Datum allfälliger weiterer Öffnungsschritte auf den 22. März vorzuverschieben. Wozu sich der Bundesrat durch die Kantone nicht überreden liess, war die Öffnung von Restaurantterrassen bereits ab dem 01. März.
  • In der Zwischenzeit geben sich bürgerliche Politiker*innen vollends dem Lockerungswahn hin: Die bürgerliche Mehrheit der Wirtschaftskommission des Nationalrates hat gemäss ihrer Mitteilung vom 27. Februar zahlreiche Anträge angenommen, die nächstens dem Parlament vorgelegt werden sollen. Darunter finden sich etwa die Forderung nach sofortiger Öffnung der Restaurantterrassen oder nach Öffnung der Restaurantinnenbereiche ab 22. März. Darüber hinaus soll Mitgliedern der wissenschaftlichen Begleitgruppe des Bundes, der Task-Force, verboten werden, sich öffentlich zur Corona-Politik zu äussern.

Die Diskussion um die Wiedereröffnung des Restaurantbetriebs gleicht jener von letztem Jahr. Damals versuchte Casimir Platzer, Präsident von Gastrosuisse, den «fünf bürgerlichen» Bundesrät*innen per Email mit ökonomischen Argumenten ins Gewissen zu Reden. Wie der Tagesanzeiger damals schrieb, wollte er sie davon überzeugen, die Pläne von Gesundheitsminister Alain Berset (SP) abzuschiessen. Dieses Jahr war die Bearbeitung erfolgreicher: Zusammen mit dem Arbeitgeberverband und dem sozialen Framing der Petition «Beize für Büezer» schaffte es Gastrosuisse, die Mitarbeitenden des BAG für eine eingeschränkte Öffnung von Kantinen zu überzeugen.

Offenbar möchte die Bürgerlichkeit am liebsten so frei sein, dass sie der Wissenschaft einen Maulkorb erteilen kann, um ihren persönlichen Meinungen und Interessen in der Öffentlichkeit mehr Raum zu schaffen. Die Absurdität kulminiert um die Figur Leroy Bächtold: Der Jungfreisinnige aus der Stadt Zürich schaffte es als Mitinitiant der Petition «Lockdown stop!» (nicht zu verwechseln mit der SVP-Kampagne von letztem Jahr), die am 15. Februar mit gut 243’000 Unterschriften eingereicht wurde, in die Medien. Im Interview mit der NZZ vom 17. Februar antwortete er auf die Frage, ob Kritiker*innen denn das Vertrauen in die Landesregierung und die wissenschaftliche Task-Force verloren hätten: «Ich bin überzeugt, dass der Bundesrat nach bestem Wissen und Gewissen handelt – trotzdem ist das, was er macht, aus meiner Sicht falsch».

Gegenüber der NZZ beteuert Bächtold, dass seine Aussagen und Forderungen wissenschaftlich untermauert seien. Das stimmt nur halbwegs. Tatsächlich will Bächtold seiner Aussage stets mit einer Studie von Forscher*innen der Stanford-Universität Kraft verleihen. Die am 05. Januar 2021 veröffentlichte Studie konkludiert, dass kein signifikanter Unterschied zwischen dem Einfluss von restriktiven und weniger restriktiven Lockdown-Massnahmen auf das Verhalten der Fallzahlen festgestellt werden konnte.

Von «wissenschaftlich» kann deshalb noch lange nicht die Rede sein. Der Wissenschaftsprozess besteht aus mehr als einer Konklusion in einer Studie. Er besteht aus Methodik, Instrumenten, Theorie, Hindernissen, Annäherungen, Schätzungen, usw. Alles Einfallstore für Unsicherheit. Einzelne Ergebnisse werden ständig überprüft und revidiert. In diesem Ton kritisiert auch Marcel Tanner, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz, die Petition: Für diese habe man einen letzten Satz einer Studie genommen und daraus einen Forderungskatalog gebastelt, der der eigenen politischen Agenda entspreche, zitierte Watson den Basler Epidemiologen bereits am 09. Februar.

Wissenschaftlich untermauert ist Bächtolds Aussage, der Bundesrat handle falsch, also nicht. Die einzelne Studie entspricht einfach seiner persönlichen Meinung. Dass auch nach einem Jahr Corona immer noch das eigene Interesse vor wissenschaftliche Ergebnisse gestellt wird, zeugt eher vom Phänomen «frei von Sinnen» als vom Ideal «Freisinn». Selbst wenn immer wieder Distanz genommen wird und Bächtold sein Bestes tut, seinen Telegram-Kanal entsprechend zu moderieren – sein Vorgehen gleicht jenem von Verschwörungstheoretiker*innen: Eine persönliche Meinung wird als «wissenschaftlich bewiesen» ausgegeben, sobald sie sich mit dem letzten Satz eines Papiers mit dem Namen «Studie» obendrauf deckt.

Summa summarum: Es ist eher der Versuch von Bürgerlichen, den öffentlichen Diskurs mit ihren Meinungen zu beherrschen, als das Zuwarten des Bundesrates, der einer Willkürherrschaft gleicht.

Wenn das «Zurück zur Normalität» zur Utopie wird

Der Wunsch, endlich zu einem präpandemischen «Normalitätszustand» zurückzukehren, verstellt den Blick auf dessen Unerreichbarkeit. Nach einem Jahr Corona, zwei Ansteckungswellen, zwei Lockdowns und einer Handvoll Mutationen scheint es nämlich, als wären der bürgerliche Übereifer, die ökonomische Blindheit für epidemiologische Unsicherheit und der von der SVP in die Öffentlichkeit getragene Kampf gegen eine scheinbare Diktatur nichts weiter als der Start einer dritten Schlaufe in einem sich so aufrechterhaltenden Corona-Zirkus:

Ansteckungen.

Lockdown.

Erholung.

«Zurück zur Normalität».

Und dann wieder von vorn, wobei ab Runde 2 Mutationen ihre Kreise auf dem Spielbrett ziehen.

Der Verdacht, dass mit der Wiedereröffnung nur der nächste Lockdown eingeläutet wird. Die Vermutung, dass die Normalität nicht der präpandemische Zustand, sondern die Ausbreitung von Mutationen sein wird, die den jeweils neu entwickelten Impfstoffen stets voraus sind.

Wenn die SVP mit ihrem «Zurück zur Normalität» ihre Retro-Utopie propagiert, löst sie in mir nicht das Gefühl aus, in einen sicheren Hafen einlaufen zu können. Viel eher vermittelt sie mir ein Gefühl des Hinterhaltes: Mit gut klingenden Worten malen sie schöne Bilder in die Lüfte. In Wirklichkeit sind es aber Sirenen wie in der griechischen Mythologie. Die Allegorie könnte nicht treffender sein: Bei Homers Odyssee sind es die Sirenen, die mit bezaubernder und scheinbar allwissender Stimme Seefahrer auf ihre Insel locken. Wenn diese der Stimme folgen, sterben sie. Wenn sie der Versuchung standhalten, werden die Stimmen der Sirenen leiser – und sie überleben.

Die Unsicherheit als ständige Begleiterin

Es gilt zu akzeptieren, dass die Unsicherheit, die mit Kurzarbeit, Jobverlust, Schulden etc. nicht einfach verschwindet, wenn der Lockdown Hals über Kopf gelockert wird: Die Verbreitung von Mutationen ist genauso als ernstzunehmende, wenn auch momentan potenzielle, Gefahr zu behandeln, wie es Einsamkeit, Lohnausfall, Wunsch nach sinnvoller Tätigkeit, Sozialisierung etc. sind. Unsicherheiten sind momentan allgegenwärtig – Lockdown hin oder her.

Im Hinblick auf die immer lauter werdenden Öffnungsforderungen lässt sich in Anlehnung an Slavoj Zizeks «Der Mut der Hoffnungslosigkeit» (2018) schliessen: Wahrer Mut bestünde heute womöglich nicht darin, dem eigenen Unmut klein beizugeben und den Sirenen zu folgen, sondern einzugestehen, dass eine überstürzte Wiedereröffnung als «Licht am Ende des Tunnels» nichts anderes ist als ein entgegenkommender Zug.

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