Kürzlich hat sich in einer Philosophievorlesung spontan die folgende Corona-Diskussion entwickelt. Ich fand sowohl die Diskussion wie auch die Tatsache, dass an der Uni philosophisch über das Thema gesprochen wird sehr positiv, weshalb ich mich entschieden habe diese Diskussion für Lumos aufzuschreiben.
Amos Zweig, Philosophie
Illustration: Laura Kneisel
Kürzlich hat sich in einer Philosophievorlesung spontan eine Diskussion um Risiko und Verantwortung in der Corona-Pandemie entwickelt. Die Standpunkte gingen von Unverständnis über die Verantwortungslosigkeit mancher Menschen über Sorge um Wirtschaft, soziale Kontakte, und Rechtsstaatlichkeit bis hin zu Angst vor einer Triagesituation und komischen «Ersatzreligionen». Sowohl die Diskussion selbst wie auch die Tatsache, dass an der Uni philosophisch über das Thema gesprochen wird, empfand ich als sehr positiv. Der Artikel stellt eine transkribierte Fassung der Diskussion dar.
Prof: Also, die Situation mit dieser Pandemie ist nicht einfach in der Welt. Und wir sind erst am Anfang des Winters, wir haben noch viele Monate vor uns… Ich war gestern in einem Restaurant in Zug, und die Leute waren ganz locker, alle zusammen, eine ganze Familie… Kein Wunder, wenn dann zum Beispiel im Kanton Schwyz die Fallzahlen stark ansteigen. Naja, bis jetzt ist die Anzahl an Verstorbenen noch nicht so hoch. Wir hoffen natürlich, dass es so bleibt…
Es ist schon spannend: Eine weit verbreitete Art, auf so ein Problem zu reagieren, ist das Minimalisieren. «Es ist nicht so schlimm, es ist ein Komplott, das ist doch alles völlig übertrieben…» Aber im Tessin zum Beispiel gab es im Frühjahr 2020 351 Tote, innerhalb einer Bevölkerung von 350’000. Das ist wirklich sehr viel. Wie ist es in Deutschland?
Zum Weiterlesen:
Fall- und Todeszahlen schweizweit.
Fall- und Todeszahlen im Tessin.
Student*in 1: Die Anzahl der Dummen ist überproportional hoch in Deutschland und deshalb haben wir auch überproportional viele Fälle. Deshalb würde ich Ihnen auch dringend empfehlen, sich gegen Pneumokokken impfen zu lassen.
Prof: Leider gibt es diese Impfung im Moment nicht mehr, aller Impfstoff ist aufgebraucht.
Student*in 2: Die Leute sind ignorant, die gehen raus bei Sonnenschein, dicht an dicht, obwohl Maskenpflicht herrscht, es wird alles ignoriert. Kein Abstand, nichts.
Student*in 3: Ich muss mich hier outen als einer von denen, die das Problem minimalisieren oder als nicht so schlimm sehen. Vielleicht bin ich da der einzige in dieser Vorlesung oder in der ganzen Uni, ich bin mir da nicht so sicher. Aber es ist mir ein Anliegen, auszudrücken, dass nicht alle an dieser Uni die «offizielle» Sicht auf die Corona-Problematik teilen.
Prof: Ich teile mit den Liberalen manche These, und ich halte die individuelle Freiheit für sehr wichtig. Aber die Tatsache, dass es präsymptomatisch und sogar asymptomatisch Infizierte gibt, die ansteckend sind, verändert die Situation. In dem Moment, in dem ich nicht sicher bin, ob ich andere Personen infizieren könnte, ist das Problem ein anderes. Denn meine Freiheit kann nicht in einem Recht bestehen, andere Leute zu infizieren. Man kann nicht die Freiheit haben, andere Leute in eine Risikosituation zu bringen. Dies lässt sich auch aufgrund einer rein liberalen Weltsicht nicht sehr einfach rechtfertigen.
Niemand kann das Recht haben, zu entscheiden, ob die alten Leute sterben müssen. Das ist gegen die eigene individuelle Freiheit. Wer hat das Recht zu entscheiden? «Es macht nichts, wenn alle unsere Grosseltern sterben» – wieso sollten die alten Leute kein Recht haben, das letzte Wort über ihr eigenes Leben zu haben, einfach weil die jungen Leute das Recht und die Freiheit haben wollen, die Maske nicht zu tragen? Das ist gegen die Menschlichkeit.
Auch anthropologisch ist es ein Zeichen des Mensch-Seins, dass Menschen einander helfen, und ihre schwachen oder kranken Mitmenschen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Margareth Mead bewies, dass die von Natur aus zerbrechliche Menschheit im Kampf ums Überleben überleben konnte, gerade weil ihre Mitglieder selbstlos waren und sich gegenseitig halfen.
Student*in 3: Darf ich was dazu sagen? Natürlich bestreite ich nicht, dass ein Zeichen der Menschlichkeit ist, dass die Menschen einander helfen, und dass dies ein Ideal ist, das wir anstreben sollten. Und ich denke auch, dass niemand, der die aktuellen Massnahmen kritisch sieht, dies bestreiten würde. Aber es gibt aus meiner Sicht eine wichtige Frage, und das ist die Proportionalität. Denn es gibt viele Dinge, die wichtig sind in einer Gesellschaft, und man muss diese gegeneinander abwägen. Man muss abwägen, wie gefährlich ist diese Krankheit, wie gross ist die Gefahr, dass alte oder junge Menschen sterben, aber auch wie gross sind andere Dimensionen des Schadens.
Denn wenn man die ganze Wirtschaft sehr stark in Bedrängnis bringt, dann macht man auch einen Schaden für die nächste Generation, man macht vielleicht die Altersvorsorge kaputt, die Krankenkasse – es kann zu Krieg kommen, wenn die Wirtschaft genügend kaputt gemacht wird! Und deshalb muss man abwägen: Man kann in einer Gesellschaft nicht nur eine Dimension maximieren und alles andere vergessen.
Prof: Ja, da haben Sie recht, ich stimme Ihnen zu, genau deshalb ist die Situation ja auch so schwierig.
Student*in 1: Es ist falsch, dass die Wirtschaft kaputt geht, es gibt bloss 5, 7, oder 10 Prozent Schrumpfung. Eine Corona-bedingte Delle im Wirtschaftswachstum. Es geht nur um ein verringertes Wachstum für eine begrenzte Zeit, und Prävention kennt keine Helden. Wenn man gut vorsorgt, wie die Schweiz oder Deutschland, dann gibt es wenig Opfer, und dann sagen alle ja was habt ihr denn, es gibt doch gar kein Problem. Aber wenn man nicht gut vorsorgt, wie zum Beispiel Frankreich oder Skandinavien, dann hat man viele Opfer. Das heisst, wir haben viele tausend weniger Tote, die wir uns jetzt mit einem etwas verringerten Wirtschaftswachstum erkauft haben.
Zum Weiterlesen:
Wirtschaft und Gesundheit in der Pandemie: Natürlich gibt es Zielkonflikte.
Raus aus dem Corona-Teufelskreis.
Offener Brief von 50 Ökonom*innen zur Befürwortung eines Lockdowns.
Student*in 4: Ich möchte mich ein Stück weit Student*in 3 anschliessen. Es gibt nicht nur wirtschaftliche Einbussen, sondern auch noch ganz viele andere Einbussen, z.B. soziale oder ganz viele Elemente, die uns in unserer Menschlichkeit charakterisieren, wenn wir schon anthropologisch argumentieren wollten. Und es ist auch da eine Frage der Proportionen. Inwiefern sind wir bereit wie viel einzuschränken, und wie viel Nutzen bringt es wirklich.
Student*in 1: Unabhängig davon, ob es um eine reduzierte Wirtschaftsleistung oder um andere soziale Vorteile geht, auf die wir verzichten müssen, man muss diese Kosten immer mit den Kosten der zweitbesten Alternative vergleichen. Und die zweitbeste Alternative wäre eine Verzigfachung der Opferzahlen, und dagegen muss man nun diese Reduktion an Freiheiten setzen.
Student*in 4: Es geht nicht einmal nur um die Effektivität der Massnahmen, sondern auch darum, dass viele Massnahmen gesamtgesellschaftlich einfach keinen Sinn machen. Es sollten eigentlich präzise die spezifischen Risikogruppen geschützt werden und nicht einfach Regeln für alle gleichermassen erlassen werden.
Student*in 1: Aber wie willst du die älteren Leute kasernieren? Ich lasse mich ungern kasernieren, weil andere Leute Party feiern wollen. Was ist da mit deinen gesellschaftlichen Werten? Gelten die nur für die Leute, die feiern wollen, oder gelten die dann auch für die, die kaserniert werden?
Prof: Ja, die jungen Leute sind weniger stark gefährdet wie die Älteren, also man könnte sagen, nur die alten Leute müssen zuhause bleiben. Aber ist das wirklich möglich? Und was ist mit den 50 bis 60 jährigen? Die sind oftmals noch berufstätig, sollen wir die auch absondern? Es ist wirklich kompliziert…
Student*in 2: Es wurde eben über Kosten geredet, aber was ist mit unserem Gesundheitssystem? Ist unsere Gesellschaft bereit, zu ertragen, dass vor unseren Krankenhäusern eine Triage gemacht wird? Also ich als Sanitätsoffizier weiss, was eine Triage ist, aber unsere Gesellschaft ist in keiner Weise bereit, so eine Entscheidung mitzutragen. Und wen lässt man dann sterben? Lässt man die Corona-Leute draussen, oder vielleicht die Krebspatienten auch noch, die sind doch eh zu teuer und hoffnungslos… Ich glaube viele Leute sind sich dieses Schreckens überhaupt nicht bewusst.
Als zweites möchte ich aber auch noch etwas in die andere Richtung sagen. Ich sehe auch die Tendenz, dass inzwischen mit dem Argument «Corona» manchmal Gesetze ausgehebelt und verordnungsmässig Sachen gemacht werden, die in unserer normalen Demokratie vorher so nicht möglich waren. Die Regierung erlässt Verordnungen, das Parlament wird überhaupt nicht beteiligt. Das sehe ich schon als eine grosse Gefahr.
Prof: Ja, das stimmt.
Ich möchte noch etwas dazu sagen, philosophisch gesehen, ganz im Allgemeinen: Ich habe den Eindruck, in einer säkularisierten, atheistischen Gesellschaft glauben die Leute nicht mehr an Gott und an manche Dogmen der Kirche. Aber ich sehe täglich das Bedürfnis der Menschen, an irgendetwas zu glauben. Die Menschen brauchen etwas, woran sie glauben können. Und dadurch, dass die Religionen oder deren Inhalte nicht mehr als glaubwürdig betrachtet werden, beginnen die Menschen viele andere, meiner Meinung nach ganz komische Dinge zu Glauben, zum Beispiel, dass die Erde flach ist oder dass das Coronavirus eine ganz normale Grippe ist und mit 5G in Verbindung steht.
Eine weitere Ausprägung von diesem Phänomen ist, dass gewisse Liberale, so scheint es mir, an die Freiheit glauben. Sie haben aus dem Liberalismus und der Verteidigung der individuellen Freiheit eine Art Religion gemacht, mit Dogmen und Geboten. Sie haben die Freiheit als ihre neue Göttin gewählt, und sie glauben wirklich daran.
Student*in 4: Ich finde das sehr spannend. Man könnte, denke ich, diesen Glauben, diese Ersatzreligion durchaus auch auf die Wissenschaft ausweiten, und es wäre dann auch sehr spannend zu diskutieren, was dies in Bezug auf Corona für Auswirkungen haben würde. Weil auch die Wissenschaft hat ihre Dogmen.
Prof: Ah, das ist doch eine philosophische Diskussion! Man muss das Buch «Die Risikogesellschaft» von Ulrich Beck hier berücksichtigen. Bis zum 19. Jahrhundert haben die Menschen an die Idee des Fortschrittes geglaubt. Wissenschaft und Technik waren Stichworte für Fortschritt. Aber dann, gerade nach dem zweiten Weltkrieg und nach Hiroshima und Nagasaki, und nach vielen schlechten Erfahrungen der Wirkungen der Wissenschaft und Technik, ist in der Gesellschaft die Wahrnehmung der Risiken des sogenannten technischen Fortschritts grösser geworden. Die Leute haben angefangen an die Nebenwirkungen zu denken, die eben sehr negativ sein können. Das hat dazu geführt, dass das Vertrauen in die Wissenschaft und die Technik abgenommen hat.
Und heute sehen wir, dass die Mehrheit nicht mehr zwingend an wissenschaftliche Tatsachen glaubt. Die Wissenschaft hat nicht mehr die Deutungshoheit. Ein Laie kann heutzutage in einer öffentlichen Diskussion einfach zu einem Fachmann sagen: «Das ist nur Ihre Meinung». Diese Tatsache besorgt mich sehr!
Leider ist die Zeit jetzt vorbei, aber vielen Dank. Wir müssen über solche Dinge auch kritisch reflektieren. Die Philosophie ist nicht nur eine Evasion, sie ist nicht eine Flucht vom Leben, sondern sie ist auch für das Leben, um kritisch über aktuelle Probleme reflektieren zu können.