Ein bürokratisches Drama in fünf Akten.
Léonie Hagen, Philosophy, Politics & Economics
1. In einem fernen Land, noch gar nicht allzu lange her, sitzt Grossmutter Gertrud, einsam und allein auf dem Balkon. Es trübt nichts ihr Glück so sehr wie das Nachbarskind, so frech und klein, die Kunst des Radfahrens erst erlernend. Das dabei doch die Füsse stets von den Pedalen nimmt: Eine Banalität, doch wahrlich, die öffentliche Sicherheit ward in Gefahr. Ein Satz nur im Gesetzesbuch verrät – aha! – auch ein Gesetzesverstoss liegt vor. Obacht! Es lodert Grossmutters Blick vor Freude. Kurzerhand zurechtgemacht, eilt Trudchen aufs Gemeindeamt.
2. Der Duft von Tinte auf Papier, der adrette Sekretär, die Ordnung lässt das Herz nun höher schlagen. Bis, oh weh! – der junge Herr, höflich, doch bestimmt, darauf verweist, dass trotz des noblen Anliegens dies die falsche Stelle sei. Verdutzt nimmt Mütterchen ein Formular entgegen, eine Unterschrift, zu lösen ihr Problem. Die Tinte fliesst übers Papier, ein Name fein säuberlich gesetzt; unbeirrt verlässt Gertrude das Büro, macht sich auf zur nächsten Tür.
3. Kurze Zeit nur muss sie warten, bis der Einlass ihr gewährt; es schlägt ihr ein stickiger Geruch entgegen. Die Spannung steigt, es folgt die trockene Replik: Wenn auch ihr Problem hier nicht angegangen werden könne, so sei dies im Büro im nächsten Stock der Fall. Zwei Formulare müsse sie ausfüllen, eine Bestätigung, dass dies ihr Anliegen sei. Eine Bearbeitungsgebühr sei zu entrichten, bescheiden, doch notwendig zum Erhalt der Dienste.
4. Schritt für Schritt erklimmet sie die Stufen, nur kurz zum Atmen sie verweilt; tritt schliesslich ein durchs hehre Tor. Die Luft ist dick, es stinkt nach Schweiss – es faucht eine Gestalt: Für Meldungen solcher Art sei niemand zuständig in diesem Haus. Spricht’s und nimmt Grossmutters Stäpelchen entgegen, zerreisst es in der Luft. Vor Trudchens fassungslosem Blick verdreht das Männlein nun die Augen, kehrt um und schmeisst den Drucker an. Es folgt ein Lageplan, ein Labyrinth von Treppen, wohin sie sich nun zu wenden habe. Die Bearbeitungsgebühr, ja bitte! Und schon findet sich Trudchen auf den Gängen wieder, stolpert die Stufen hoch hinauf; klopft hastig an die Türe und taumelt herein.
Doch weh ihr! – kaum schlägt die Türe zu, bricht ein Sturm im Raume aus. Regungslos und leer blickt die Gestalt am Schalter auf Gertrude, kein Wort kommt über ihre Lippen. Stattdessen surrt der Drucker immer lauter, beginnt, Papier geschwärzt von Tinte zu spucken. Erstarrt vor Schreck steht Trudchen da, wagt kaum, die Hände vors Gesicht zu heben, als ein Schwarm von Dokumenten näherrollt: Ein Eigenleben, das vor Bosheit strotzt. Es falten zu Mündern sich die Blätter, zu Fängen werden Worte, deren Klauen Grossmütterchen nun nicht länger zu entweichen vermag. Es tost und braust, und lässt nicht ab; nur Trudchens Hand, schwach hilfesuchend, aus dem Sturm heraus noch ragt – bis plötzlich: Stille herrscht.
5. Ganz zögerlich nur hebt Grossmutter den Kopf, zu vorsichtig, der Stille zu trauen. Doch siehe da: Die Blätter schweben in der Luft, der Angriff ist pausiert. Inmitten dieser Ruhe setzt ein einzig Blatt, blütenweiss und rein, andächtig sich auf die noch ausgestreckte Hand. Ein Augenblick der Ruhe und Trudchen atmet aus; greift zittrig und mit letzter Kraft zur Feder. Setzt an und schafft, in Schnörkelschrift und stiller Andacht, zur Meldung von unzulässigem Radfahren nun: ein neues Amt.