Neben der Spur

Format
Interview
Lesedauer
6 Minuten
Veröffentlicht am
6. Oktober 2020

Von Nebensächlichkeit, Produktivität und dem Wert des Umwegs

Nebensächliches wird allzu oft mit Unnötigem gleichgesetzt. Wer sich mit Nebensächlichkeiten beschäftigt, muss sich dafür rechtfertigen. Federica Gregoratto plädiert dagegen für eine Gesellschaft, die gerade Raum für solche Ablenkung zulässt – ein philosophisches Gespräch auf Umwegen. 

Léonie Hagen, Philosophy, Politics & Economics (Text)
Jonathan Biedermann (Bilder)

An diesem Mittwochmorgen brennt die Sonne vom Himmel, als Federica Gregoratto, Dozentin für Philosophie, die Bibliothek an der Sempacherstrasse betritt. Sie erzählt von ihren Wanderferien, während Jonathan im Innenhof Fotos von uns schiesst. Kurz darauf nehmen wir im Café der Bibliothek Platz und beginnen langsam mit dem Gespräch. Das Thema scheint banal: Welche Rolle spielt das Nebensächliche heute?

Schnell wird klar, dass wir noch länger hier sitzen werden: Fragen über Fragen, auf welche wir beide zunächst keine Antwort haben. Wir tasten uns Stück für Stück an die Aspekte der Nebensächlichkeit heran, verirren uns, und kommen irgendwann mit neuen Erkenntnissen auf bereits genannte Punkte zurück.

Zur Entwirrung der begrifflichen Verwirrung

Ausgangspunkt ist, wie so oft, eine begriffliche Unklarheit:  Was bedeutet das Wort «nebensächlich» überhaupt? «Als Nicht-Muttersprachlerin habe ich hier zuerst an die Zusammensetzung des Worts gedacht – «neben» und «sachlich». Dabei habe ich gemerkt, dass nebensächlich nicht unbedingt das Gegenteil von sachlich sein muss: Es existiert einfach daneben, ohne zwingend eine Dichotomie zu bilden», erzählt Gregoratto. Allein durch diese Existenz neben dem, was wir als Hauptsache wahrnehmen, schafft das Nebensächliche einen Kontrast. Es bringt Zweifel auf; führt uns zur Frage danach, was überhaupt Hauptsache ist – und danach, warum das ausgerechnet so sein sollte. 

Damit erhält das Nebensächliche eine bewegende Funktion: Es liegt nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit, sondern in der Peripherie, die das Zentrum immer wieder relativiert und «rearticulations» des Fokus zulässt. Die Auseinandersetzung mit dem Nebensächlichen könnte etwa mit dem Abkommen von einer bestimmten Spur verglichen werden, mit einem Prozess des Sichverlierens. Das bedeute aber nicht, dass Nebensachen deswegen zweckfrei sein müssten. «Nebensachen können durchaus einen Zweck haben, sie werden nur nicht als wichtig oder prioritär angesehen», erläutert Federica. Schliesslich sei die Frage nach der Relevanz weniger eine objektive, als vielmehr eine Frage nach dem Interesse. 

Wert, Zweck und Sinn der Nebensache

Durch diesen bewegenden Aspekt besteht der Wert der Nebensächlichkeit für Individuen einerseits in der Ablenkung, und andererseits auch in der autonomen Reflexion über unsere Entscheidungen und Zwecke. Der Wert liegt auch im Umweg, um herauszufinden, ob die gewählte Spur (die «Hauptsache») überhaupt die richtige ist. Doch in einem kapitalistischen, effizienzorientierten System ist die Frage nach dem Wert sehr ambivalent. Was geschieht, wenn diese Funktionen der Nebensächlichkeit in das System integriert bzw. zur Hauptsache werden? Stichwort «Self-Care»: Wenn der Yoga-Kurs, die tägliche Meditation und das Sabbatical lediglich zum Mittel zur Selbstoptimierung werden, damit wir weiter so funktionieren können wie bisher. 

Diese Selbstkritik sei sehr wichtig, betont Gregoratto: «Das sind Erfahrungen, die zu uns kommen, die wir nicht einfach so suchen können. Diese Art des Verlorenseins an sich hat auch keine Garantie, dass wir uns oder irgendetwas wieder finden, und dass wir danach weiterleben können: Daneben zu gehen, von der Spur abzukommen, das ist tatsächlich gefährlich.» Die Auseinandersetzung mit dem Nebensächlichen lässt sich deshalb nicht instrumentalisieren, weil der Zweck nicht von Anfang an ersichtlich ist. Gregoratto schlägt hier vor, dialektisch zu denken: Zwar sei es bei solchen Infragestellungen nicht möglich, von Anfang an einen bestimmten Zweck zu verfolgen – wohl aber, im Nachhinein einen Sinn aus all den Umwegen zu erkennen oder zu konstruieren. Dafür aber müsste man sich von der Vorstellung einer linearen Entwicklung verabschieden. 

Die Kunst der Kritik

Dies wird umso wichtiger, wenn wir diese Erkenntnisse vom Individuum auf die Gesellschaft übertragen, die ebenso auf Momente der Unsicherheit über ihre Prioritäten angewiesen ist. «Eine Gesellschaft, die von Anfang an weiss, welche Zwecke zu verfolgen sind, und was produziert werden muss, ist eine tote Gesellschaft – und eine undemokratische», fasst Federica zusammen. Um aus diesen Mustern auszubrechen und diese neu zu evaluieren, benötige eine Gesellschaft Leute, die Verrücktes tun, dessen Zweck wir nicht direkt erkennen. Diese Leute können etwa Kunstschaffende sein, die sich besonders häufig abseits der vorgegebenen Spuren bewegen. Gerade heute müssten wir uns aber fragen, ob die Kunst diese infragestellende Funktion noch wahrnehmen kann. Denn der Kunst stehe zwar in demokratischen Gesellschaften viel frei, aber nur in ihrem eigenen, von der Gesellschaft getrennten Bereich, in welchen sie gemäss Federica Gregoratto gedrängt werde: «Dann ist der Moment, uns zu fragen: Ist so wirklich Kritik an unserer demokratischen, liberalen Gesellschaft erlaubt?» Oder haben wir einfach den Rahmen anders gesetzt?

Während des gesamten Gesprächs spricht sich die Philosophin wiederholt dafür aus, dass es in einer Gesellschaft Raum für Experimente und unkontrollierte Auseinandersetzungen mit vermeintlich Nebensächlichen geben müsse. Aber angenommen, diese Räume bestünden in einem gewissen Ausmass – wer darf diese Räume beanspruchen? Meistens bleiben sie privilegierten Menschen vorbehalten, die über genügend Zeit, Geld und Ansehen verfügen, um sich sozusagen ungestraft mit Nebensächlichkeiten beschäftigen zu können. 

Gesellschaften im Wandel

Federica geht aber noch weiter. «Es ist ganz klar, dass diese Exklusion eine Ungerechtigkeit darstellt, und wir wissen auch ungefähr, wieso. Die interessantere, auch theoretische Frage ist aber: Wie verändern wir das?» Spannend sei diese Frage, weil auch sie keine Antwort darauf habe. Sicher ist sich die Dozentin jedoch, dass gesellschaftliche Transformation notwendigerweise von Momenten abhängig ist, in welchen wir uns als Gesellschaft verlieren. Auch wenn beispielsweise im Fall der Gilets Jaunes unklar bleibt, ob sie eine transformative Kraft darstellten: «Hier herrschte eine grosse moralische Unbestimmtheit – es war sehr unklar, was die Ziele dieser Bewegung sind oder sein könnten, es gab Chaos und Gewalt, die relativ lange andauerten.»

Trotzdem ist bis heute noch nicht klar, was die Bewegung erreicht haben soll. Wie werden Fragen, die durch solche Bewegungen Aufmerksamkeit erhalten, langfristig in den politischen Diskurs aufgenommen? «Durch Macht und Rechte», fasst Federica zusammen. «Und dort stellt sich die Frage: Was ist die Quelle der Macht?» Gemäss marxistischer Theorie liege diese in der Unverzichtbarkeit der eigenen Arbeit für das System. Die Tatsache, dass aber gerade solch systemrelevante Tätigkeiten im Diskurs vernachlässigt werden, zeige, dass sich unser kapitalistisches System in einer materiellen Krise befinde: Ohne eine Beachtung dieser Berufe kollabiere das System. Wie können wir uns erklären, dass Systemrelevanz wie eine Nebensache behandelt wird?

Dafür müssen wir Diskurs und System voneinander trennen. Damit liesse sich auch sagen, dass Nebensächliches durchaus fundamental und damit unverzichtbar sein kann (aber nicht immer sein muss), aber im Diskurs dennoch nicht die notwendige Relevanz erhält. 

Was streichen wir?

Über die Frage nach der Relevanz gelangen wir wieder zur Frage, welche Nebensächlichkeiten wir in Zeiten der Selbstoptimierung tatsächlich streichen. Wenn Nebenbeschäftigungen wichtig sind, damit wir funktionieren und unsere Zeit nutzen können, so argumentiert Federica, dann ist es die Zeit des Nichtstuns, die wir streichen. Die freie Auseinandersetzung mit dem Nebensächlichen, deren Ausgang nicht klar sein kann: «Wir können durchaus sagen, dass wir eigentlich auf weniger verzichten und im Gegenteil versuchen, viel mehr zu tun als je zuvor. Aber wir verzichten dafür auf die Musse, das Ungeplante, das Sichverlieren.» Weil es eben keine Garantie gibt, dass wir danach wieder funktionieren wie gehabt – und das können bzw. wollen wir uns nicht leisten. 

Federica Gregoratto plädiert so für eine Gesellschaft, die Raum für experimentelles Leben, Reflexion und Auseinandersetzungen mit Nebensächlichkeiten schafft, ohne diese einem Produktivitätszwang unterzuordnen. Wie wir dazu kommen sollen, bleibt allerdings weiterhin unklar… Und unterliegt vielleicht ein Stück weit selbst dem Charakter des Experiments. 

Federica Gregoratto ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin im Fachbereich Philosophie an der Universität St. Gallen und hatte im FS20 einen Lehrauftrag an der Universität Luzern. Ihre Forschungsgebiete umfassen unter anderem die Sozialphilosophie sowie die Philosophie der Liebe. 

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