Es ist ein schwüler aber warmer Donnerstagabend.
Lara Jornod, Kulturwissenschaften
Sandra Schmid sitzt auf der kleinen Terrasse ihres Lieblingsrestaurants am Ufer des Vierwaldstättersees. Sie liebt den Ausblick, den sie von ihrem Stammplatz aus auf die Stadt Luzern hat, am liebsten bei einem sommerlichen Sonnenuntergang, der bald zu sehen sein wird. An ihrem Ingwer -Zitronengras-Eistee nippend, beobachtet sie neugierig die anderen Gäste und geniesst die abendliche, fast schon romantische Stimmung am See.
Sandra mag es, in diesem Restaurant zu essen, da sich die Leute gut kleiden und das Essen nicht zu teuer ist, aber dennoch gut. Hier trifft sie sich einmal die Woche mit ihrer Schwester, welche nun sich neugierig umschauend auf die Terrasse tritt. Erika hat kurze, lockige, schwarze Haare, ihr dunkelgrünes Kleid ergänzt den ihren dunkleren Teint hervorragend. Einmal mehr ist sich Sandra bewusst, welche Wirkung die junge Brasilianerin auf andere haben mag. Schon als Kind hatte Sandra bemerkt, wie andere Eltern Erika musterten, sei es aus Neugier oder Argwohn, wenn ihre Schwester mit ihren Kindern spielen wollte. Meist hatten Sandra und Erika sich keine Sorgen machen müssen, da die Eltern die Kinder in Ruhe spielen liessen. Es gab aber auch Eltern, die den Kindern über den Spielplatz zuriefen, nicht mit dem ausländischen Kind zu spielen.
Mittlerweile haben die Geschwister gelernt, mit solchen Situationen umzugehen. Erika winkt ihr lächelnd zu, begibt sich zu Sandras Tisch und umarmt ihre Schwester freudig. «Tut mir leid für die Verspätung, musstest du lange warten?» fragt Erika. «Nein, nicht länger als üblicherweise.» erwidert Sandra neckend. «Sehr witzig… Nun, erzähl deine grossartige Neuigkeit!», drängt Erika ihre Schwester und schaut sie erwartungsvoll an. «Schwesterchen, nur mit der Ruhe, bestell dir doch erstmal etwas zu trinken.» Erika bestellt sich einen Moscow Mule und schaut ihre Schwester erwartungsvoll an, «Nun erzähl schon!».
Die zwei Schwestern sind sich immer sehr nahegestanden, sie waren von klein auf durch dick und dünn gegangen. Erika wurde im Alter von zwei Jahren adoptiert und einige Monate später war ihre Schwester auf die Welt gekommen. Auch nach der Kindergartenzeit mussten sie sich noch rechtfertigen. Häufig bekam sie Fragen ihrer Mitschüler gestellt, wie sie denn mit ihrer Schwester verwandt sein könne, da sie sich nicht ähnlich sehen. Auch heute ist es für einige schwer vorstellbar, dass die Schwestern der gleichen Familie angehören sollen. Erika fand dies immer sehr komisch, denn wie klein und begrenzt muss die Welt sein, wenn Familie nur durch Blut und Biologie zu definieren ist? Doch die wiederholte Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft hat Erika und Sandra dazu bewegt, dies als Chance zu sehen, andere aufzuklären. Der Erwartung nach sollte das Leben mit dem Alter einfacher werden, doch meist ist es gerade umgekehrt.
Nachdem Erika von ihrem Umzug erzählt hat – die junge Brasilianerin hatte entschieden, näher zu ihrer Schwester zu ziehen und hatte eine kleine Wohnung in der Altstadt gefunden – drängt sie ihre Schwester, mit ihrer Neuigkeit herauszurücken. Erika kann es kaum erwarten, Neues mit ihrer Schwester zu erleben. Sandras Gesicht erhellt sich, als könne sie ihr Geheimnis nicht länger zurückhalten. «Anna und ich haben endlich entschieden, ein Kind zu adoptieren!»
Erika grinst über beide Ohren. Seit langem hatte sie Anna und ihre Schwester dazu gedrängt, eine Adoption in Erwägung zu ziehen. «Ich freu mich wahnsinnig für euch!», Erika umarmt ihre Schwester und schwelgt in ihren Erinnerungen. Es wird eine tolle Erfahrung für beide Schwestern sein und sie freuen sich, sich erneut mit den Themen Liebe, Familie und Vorurteile auseinandersetzen zu können. Schliesslich gehört dies zum Alltag der beiden Schwestern und vielleicht würden sie durch ihre Erzählungen und Handlungen die Meinungen anderer Menschen positiv beeinflussen können.
