Solidarität mit Seinesgleichen

Wer ist das "wir"? (Bild: Dhaya Eddine Bentaleb via Unsplash)
Format
Essay
Lesedauer
4 Minuten
Veröffentlicht am
17. April 2020

Einbunkern, Ausharren, Durchstehen. Im Namen der Solidarität! Wie «Solidarität» verwendet wird und wer dabei vergessen geht.

Jonathan Biedermann und Léonie Hagen, Philosophy, Politics & Economics

Es sörgelt. Die «Egoist*innen» treiben ihr Unwesen: Horten Klopapier oder streichen skrupellos allen Anordnungen zuwider weiterhin durch die Gassen. «Solidarisch bitte!», schreit es aus dem Rest der Munde: In diesen Zeiten müsse über den eigenen Tellerrand hinaus geblickt werden; schliesslich sässen noch andere am Tisch.

Stellvertretend für den medialen Tenor bringt es die NZZ auf den Punkt: «Jetzt muss die Bevölkerung ihr Verhalten anpassen, um die Verletzlichsten zu schützen. Nur so werden die Kapazitäten des Gesundheitswesens genügen», schrieb sie am Freitag dem 13. (März). Eine Woche später verhängt der Bundesrat in einer Medienkonferenz entsprechende Massnahmen: «Bleiben Sie, wenn immer möglich zu Hause», forderte Alain Berset (ab 10 Minuten 55 Sekunden) in der Medienkonferenz des Bundesrates – und stimmte damit in den Kanon zahlreicher europäischer Länder mit ein.

Die unaufhörliche Repetition hat den Zweck der Internalisierung erfüllt: Selbstverständlich müsse den Alten gesorgt sein. Eingekauft. Den Kindern geschaut. Echte Solidarität bestehe aber darin, «dass Menschen, die eigentlich keinen Grund dafür hätten, weil sie keiner Risikogruppe angehören, sich freiwillig zuhause einsperren, um nicht den Virus zu verbreiten», wie jemand in einem Forum der Süddeutschen Zeitung anmerkt.

Solidarisch zeigt sich, wer sich gerade nicht zeigt

Seither erfreut sich dieses Attribut – solidarisch – einer nie dagewesenen Aufmerksamkeit.

Solidarisch gilt bereits, wer sich nicht rührt, sich zu Hause einschliesst. Das zu-Hause-bleiben wird nachgerade zur hinreichenden Bedingung solidarischen Daseins erklärt: «Wenn du zu Hause bleibst, dann bist du solidarisch». Für die Auszeichnung «Ich bin solidarisch!» reicht es damit offenbar aus, sich zu Hause einzuschliessen.

Zu Recht – zum Teil. Die Reduktion von Kontakten hilft tatsächlich, gefährdete Personen vor einer Ansteckung zu schützen und die Verbreitung des Virus einzudämmen. Dies wiederum erleichtert den Pflegenden in den Spitälern die Arbeit erheblich und sorgt dafür, dass es für jene, die von Covid-19 ins Spital gesendet werden, auch Betten zur Verfügung hat.

Gleichzeitig scheint aber das zu-Hause-bleiben auch zur notwendigen Bedingung solidarischen Daseins erkoren: «NUR wenn du zu Hause bleibst, bist du solidarisch».

Immunität vor dem gesellschaftlichen Urteil des «Unsolidarisch-seins» geniessen lediglich das Einkaufen für das pensionierte Paar von gegenüber und andere Formen von Nachbarschaftshilfe. Ansonsten gilt: Rausgehen verboten.

#stayhome – unter welchen Bedingungen?

Abgesehen davon, dass damit Solidarität sehr strikt definiert wird, stehen wir vor diesem Problem: Der Aufruf zur Solidarität durch den Rückzug in die eigenen vier Wände setzt voraus, dass das auch alle gleichermassen tun können. 

Die Unterstützungsangebote für Obdach- oder Wohnungslose wie auch für Asylsuchende wurden seit dem 16. März drastisch zurückgestuft. Wohin sollen sich diese Menschen zurückziehen?

Unsicherheiten machen unter Umständen auch vor vier Wänden und einem Dach nicht Halt – oder kommen gar von innen her. Betroffene von häuslicher Gewalt sind durch die Pandemie-Massnahmen mehr gefährdet denn je. Menschen mit psychischen oder chronischen Erkrankungen sind ebenfalls zusätzlicher Belastung ausgesetzt: Wer etwa unter Depressionen leidet, muss nun auf die empfohlenen sozialen Interaktionen ausserhalb der eigenen Wohnung verzichten.

Auch die bestehenden negativen Auswirkungen von Ungleichheiten werden in der gegenwärtigen Krise verstärkt. Wer bereits auf Betreuung angewiesen ist, muss damit rechnen, dass diese zurückgestuft oder ausgesetzt wird. Kinder, die schon vor der Krise Lernschwierigkeiten aufwiesen oder nur beschränkt auf einen Computer zugreifen können, fallen im Online-Unterricht zurück. Zahlreiche Betreuungsangebote für Kinder fallen weg – die zusätzlich anstehende Care-Arbeit übernehmen oft Frauen. Migrant*innen erhalten wichtige Informationen nur in den schweizerischen Nationalsprachen, auch ihre Unterstützung wird reduziert

Das alles betrifft Menschen, die arbeitstechnisch zu Hause bleiben können. Was aber geschieht mit den (mehrheitlich weiblichen) Angestellten in den sogenannt systemrelevanten Berufen? Mit dem Personal, das zu verhältnismässig tiefen Löhnen (je nach Sektor und Position) und mit unzureichender Schutzausrüstung weiterarbeiten muss, weil das System sonst kollabiert? Und was ist mit den Menschen, die sich ausserhalb unserer nun geschlossenen Grenzen befinden – mit Flüchtenden in Griechenland und Asylbewerbenden in Norditalien?  

All diese Unklarheiten führen uns zu einer grossen Frage.

Wer ist mit wem solidarisch?

Die obigen Beispiele legen nahe, dass mit #stayhome nicht so sehr mit Anderen solidarisch gehandelt wird, als vielmehr mit Gleichen. Dieser Begriff der Solidarität setzt eine Homogenität an Lebensrealitäten voraus, die – obwohl faktisch nicht gegeben – verallgemeinert wird.

Den Preis bezahlen die Anderen – die faktisch von der scheinbaren Homogenität abweichenden, deren Inklusion vergessen geht. Die Gedanken der Philosophin Rahel Jaeggi aus einem Artikel von 2015 zum Begriff der Solidarität passen vor diesem Hintergrund wie die Faust aufs Auge:

«Das vorgeblich Allgemeine erweist sich als faktisch Gemeinsames einer partikularen, doch dabei privilegierten Gruppe, das allgemeine Wohl als deren partikulares Interesse: das unabhängige (sorgenfreie) männliche Subjekt in der Sphäre der Erwerbsarbeit; der (weiße, nicht-behinderte, heterosexuelle) Mann als Mensch; der Besitzende als citoyen

Die Vorstellung, dass alle dieselben Voraussetzungen aufweisen wie «besitzende citoyens», zeigt sich in der aktuellen Krise gleich doppelt. Einerseits darin, mit wem wir solidarisch sind (einer einschlägigen Risikogruppe) und andererseits darin, wie diese Solidarität auszusehen hat (zu Hause bleiben).

Der Sturm mag für alle derselbe sein – im selben Boot sitzen wir darum noch lange nicht. Jede Voraussetzung einer allgemeinen gemeinsamen Herausforderung, vor der wir alle gleich sind, blendet das aus – und führt zu einer verkürzten Verwendung des Solidaritätsbegriffs.

Zwischen Symbolik und Hilfeleistung

Ein nicht-verkürzter Solidaritätsbegriff würde dagegen erfordern, dass auch die oben genannten Gruppen eingeschlossen sind. Soziale Medien werden zwar geradezu geflutet von solchen Solidaritätsbekundungen: Ob mit #leavenoonebehind für Lesbos, einem Like für eine Kampagne gegen häusliche Gewalt oder Beifall vom Balkon für die Pflegenden.

Diese Aufmerksamkeit verharrt bis jetzt jedoch in reiner Symbolik. Wenn die entsprechenden Menschen nicht nur symbolische, sondern auch faktische Unterstützung erhalten sollen, dann müssten Hilfeleistungen nicht nur der Wirtschaft, sondern auch den oben genannten Gruppen gewährt werden.

Dafür müssten Entscheidungstragende nicht nur über den eigenen Tellerrand, sondern auch über den eigenen gedeckten Tisch hinausblicken. Manch eine*r sitzt da nämlich gar nicht dran.

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