Nora Baltermia, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften
«Keine Zeit» ist wahrscheinlich eine der häufigsten Ausreden in der modernen Welt. Keine Zeit, Sport zu treiben, keine Zeit, ein Buch zu lesen, keine Zeit, die Grosseltern zu besuchen oder Spanisch zu lernen. Und wenn es nicht eines dieser Beispiele ist, dann wirst du dich in einer anderen Situation dabei ertappen, wie du etwas nicht tust, weil du «keine Zeit» hast. Seien wir ehrlich: Es klingt auch wirklich plausibel. Denn wir arbeiten Vollzeit. Wie sollen wir daneben auch noch ein ausgeprägtes Sozialleben pflegen, uns gesund ernähren, Sport treiben, unsere sozialen Medien nicht vernachlässigen und einem zeitaufwändigen Hobby nachgehen? Es scheint, als wäre die To-Do-Liste zu lang oder der Tag zu kurz. Deswegen haben wir für gewisse Dinge einfach «keine Zeit». Logisch, oder?
Moment! Hat der Tag von Oprah Winfrey, Jeff Bezos oder der Person, die du beneidest, nicht auch 24 Stunden? Und befinden wir uns nicht im Lockdown und haben fast alle im Moment mehr Zeit?
Theoretisch müssten wir diese Woche also Zeit gehabt haben, Sport zu treiben oder das Buch, das auf dem Stapel «zu lesen» liegt und bereits Staub gefangen hat, tatsächlich zu lesen. Nicht wahr?
Und trotzdem ist unsere To-Do-Liste mit all den Dingen, die wir gerne tun würden, aber nicht tun, wahrscheinlich genauso lang wie in den Wochen zuvor. Dass soll natürlich nicht heissen, dass diejenigen, die gerne Sport treiben, zu Couch Potatoes geworden sind. Aber die Sportmuffel, die vorher «keine Zeit» für Sport hatten, reiben jetzt einfach keinen Sport, weil «die Fitnesszentren geschlossen sind» oder weil «die Ärzte sagen, dass es im Moment nicht vernünftig sei, draussen zu joggen». Andere Ausreden, gleiches Resultat. Denn das Problem ist nicht die Zeit, das Problem sind wir.
Natürlich können wir nicht ändern, dass ein Tag nur 24 Stunden hat. Natürlich müssen wir auch Zeit zum Schlafen einrechnen. Natürlich müssen wir zuerst unseren Pflichten nachgehen. Doch wir entscheiden, wie wir die restliche Zeit einteilen. Wir entscheiden, ob wir nach dem Abendessen lieber Joggen gehen, Netflix schauen oder eine andere Sprache lernen. Wenn wir gewisse Dinge nicht in unseren Alltag integrieren, sollten wir also nicht sagen, dass wir dafür «keine Zeit» haben, sondern zugeben, dass wir «keine Lust» dazu haben oder dass es uns einfach nicht wichtig genug ist, um uns dafür Zeit zu nehmen. Wir sind es, die uns die Zeit für gewisse Dinge einfach nicht nehmen. Wir sind es, die Prioritäten setzen. Den Kampf führen wir nicht mit der Zeit, sondern mit uns selbst. Lasst uns also Nägel mit Köpfen machen und die Dinge tun, die wir ja eigentlich gerne tun würden!