Spazieren zum Hobby zählen, das wäre vor drei Wochen noch wenigen in den Sinn gekommen. Während die Ausgangssperre in anderen Ländern bereits Alltag ist, bleibt sie in der Schweiz noch aus. Dadurch erhält das Lustwandeln einen neuen Wert.
Hannah Göldi, Kulturwissenschaften
Vor über zwei Wochen hat der Bundesrat verkündet, dass nach wie vor auf eine Ausgangssperre verzichtet wird, vorausgesetzt wir Bürger und Bürgerinnen halten uns an die Regeln. Ansammlungen dürfen maximal fünf Personen zählen, wobei ein Mindestabstand von zwei Metern eingehalten werden muss. Obwohl man grundsätzlich zuhause bleiben sollte, kann gelegentlich, und mit Wahrung der Social Distance zu anderen Passant*innen, spaziert werden. Die folgenden Zeilen widmen sich dem Wert dieser speziellen Tätigkeit, dem Spaziergang, der im Alltagsstress oft zu kurz kommt und von seinem grossen Bruder, dem Gang, überschattet wird.
Spazieren ist also erlaubt und mehr: auf lange Sicht unverzichtbar. Psychiater*Innen warnen vor den Schäden, die durch die Isolation in den eigenen vier Wänden hervortreten können. Zum Beispiel äussert sich Ostschweizer Psychologe Gunter Grein bei «Watson» zum Thema. Ihm zufolge könne die Isolation zu posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen führen. Neben psychischer Erholung gibt es aber noch viele weitere Gründe, Spaziergänge zu machen.
Gehen als Zeitvertreib
Vom Transportmittel zum Zeitvertreib: Vielleicht ist spazieren lediglich eine andere Perspektive auf das Gehen. Zeit wird in unserer Gesellschaft allzu oft mit Geld gleichgesetzt. Ich möchte Spaziergänge deshalb als nichtverschwendete Zeitverschwendung anpreisen, wobei man sich den Weg zum Ziel machen darf, um sich dabei zu verlieren. Ohne auf der Strecke zu bleiben, darf man beim Spazieren auch mal vom Weg abkommen. Es handelt sich also um mehr als nur einen anderen Blickwinkel.
Spazieren kann auch eine Inspirationsquelle sein: In Philosoph Friedrich Nietzsches Werk «Götzen-Dämmerung» steht dazu passend: «Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.» Beim Gang können Gedanken verinnerlicht werden, die beim Sitzen schnell wieder verloren gehen. Wem wurde in der Schulzeit nicht mal vorgeschlagen, Vokabeln im Gehen zu lernen? Einerseits unentdeckte Gebiete erschliessen, andererseits schlimme Gedanken wegtreten: der Spaziergang passt sich jeder Situation an.
Die Umwelt stärker wahrnehmen
Wenn es Zuhause also unruhig ist und die Meditation wegen des lauten Staubsaugers einfach nicht funktionieren will, so hilft mit Sicherheit der Gang im Freien: Meditation muss nicht zwingend in-sich-kehren bedeuten. So entsteht beim Spazieren eine Verbindung zwischen dem Innern der Menschen und ihrer Umwelt. Die bewusste Wahrnehmung der Umwelt liegt in der Natur des Spaziergangs. Aus den meisten Städten ist man zu Fuss oder mit dem Auto schnell draussen (momentan sollte der öffentliche Verkehr eher gemieden werden). In Luzern bieten sich dafür zum Beispiel der Sonnenberg oder der Rotsee an.
Kleine Ausflüge lohnen sich insofern, dass die menschenleeren Strassen in städtischen Gebieten für apokalyptische Stimmung sorgen. Die meisten dürften sich jedoch schon daran gewöhnt haben. Immerhin läuft man keine Gefahr, in eine gestresste Person mit to-go Kaffee zu knallen. Beim Bummeln muss lediglich auf den Sicherheitsabstand geachtet werden. Und weil der Spaziergang keine Eile kennt, darf man dem Gegenüber in der engen Gasse ruhig den Vortritt lassen. Ein Blick in die dunklen Schaufenster der Läden, oder beim Schlendern gar risikofrei nach oben gucken: in vielen Schweizer Städten gibt es unzählige schöne Gebäudefassaden, die sonst kaum wahrgenommen werden.
Also los: Sonnenbrille montieren und Schuhe binden. Corona kann das schöne Frühlingswetter nicht aufhalten. Die Zeit zum Pendeln kann momentan zum Spazieren genutzt werden. Wann konnte man das letzte Mal so bewusst Musik hören oder gar kopfhörerbefreit durch die Stille flanieren? Zu guter Letzt: Spaziergänge werden seit jeher genutzt, um ungestörte Gespräche zu führen. Warum also nicht telespazieren statt telefonieren? Es gibt stets viele Gründe, sich die Füsse zu vertreten. Doch zur Zeit ist spazieren eine der wenig möglichen Eskapaden aus dem Alltag.