Weg mit Bewahrtem, das sich nicht bewährt

Gezeichnet von Stella, 8 Jahre alt.

Bewährtes bewahren – klar, wer könnte dagegen sein. Vieles bewährt sich jedoch nicht. Gerade in der Politik kleben wir oft da in Grundsatzdebatten fest, wo der Zeitgeist zum Handeln drängt. Eine Analyse.

Linda Leuenberger, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften

Nebst dem Dauerbrenner Klima waren es jüngst die Debatten um den Vaterschaftsurlaub sowie um die Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm, welche in der Schweizer Politszene für ordentlich Hitze im Links-Rechts-Duell sorgten. Es sind drei Beispiele dafür, dass sich nicht alles Bewahrte bewährt – und dass der Fortschritt von unwesentlichen Debatten gehemmt wird. Fangen wir hinten an: Das Parlament hat im vergangenen Jahr beschlossen, es soll künftig bestraft werden, wer öffentlich und in pauschaler Weise gegen Homosexuelle hetzt.

Die Bedrohung öffentlicher Herabwürdigung und gewalttätiger Übergriffe ist für homosexuelle Personen in der Schweiz nämlich real: Bei «Pink Cross» und der LGBT+ Helpline gehen pro Woche vier Meldungen zu homo- oder transphober Gewalt ein. In einer heteronormativen Gesellschaft aufzuwachsen und irgendwann zu merken, dass man nicht in vorgegebene Schemata passt, kann verwirrend sein. Man sollte sich nicht noch anhören müssen, dass es sich bei der eigenen sexuellen Orientierung um unnatürlich krankhaftes Verhalten handelt. Homosexuelle Jugendliche sind drei Mal mehr suizidgefährdet als ihre hetero Peers.

Vom rechten Rand des politischen Spektrums wurde auf den Parlamentsbeschluss hin das Referendum ergriffen, um sich gegen «Gesinnungsterror» zu wehren, so der Vorwand. Doch der Zeitgeist sollte dem Komitee diese Partie vermiesen: Im Februar dieses Jahres haben sich 63 Prozent der Wahlberechtigten für den Parlamentsbeschluss und gegen die ungestrafte öffentliche Diskriminierung von Lesben, Schwulen und Bisexuellen ausgesprochen.

Wie die Erweiterung der Rassismusstrafnorm wird auch die Änderung des Erwerbsersatzgesetzes für einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub mittels Referendum vors Volk gebracht. Zwei Wochen seien zwei zu viel für einen «Papiplausch», lässt das aus SVP und Jungfreisinn bestehende Referendumskomitee verlauten. Wovon sich Männer nach einer Geburt denn erholen müssten? Das Komitee verfehlt es, zu erkennen, dass es beim Vaterschaftsurlaub nicht darum geht, frischgebackenen Vätern «gratis Ferien» einzuräumen. Viel grundlegender liegt das Interesse darin, dem Wunsch insbesondere junger Väter nach besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf nachzukommen.

Eine Familie wie vor hundert Jahren

Nicht weniger wichtig handelt es sich beim Vaterschaftsurlaub um ein Bestreben nach Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. Denn auch wenn es heute selbstverständlich ist, dass Frauen Berufe erlernen und sich die Differenz im Bildungsniveau angepasst hat – Frauen mittlerweile gar mehr Hochschulabschlüsse erzielen als Männer – kommt es bei der Familiengründung oft zu einer sogenannten Retraditionalisierung der Geschlechterrollen. Dies hat viel damit zu tun, dass Müttern nach einer Geburt ein Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen gewährt wird, während Väter von Gesetzes wegen lediglich auf einen Tag Urlaub Anspruch haben. Damit lässt sich nach der Geburt eines Kindes kaum vermeiden, dass sich die Mütter um Haus und Kind kümmern, während Männern die Versorgerrolle auferlegt wird.

In der Erhebung zu Familien und Generationen lässt das Bundesamt für Statistik verlauten, dass 2018 in zwei Dritteln der Schweizer Haushalte die Hausarbeit hauptsächlich von Müttern erledigt wird, in nur fünf Prozent der Fälle sind die Väter zuständig. Auch bei der Kinderbetreuung übernehmen Mütter in drei Vierteln der Haushalte die Hauptverantwortung. Studien zeigen, dass sich diese traditionelle Auslegung der Geschlechterrollen auf den Berufsverlauf der Frauen negativ auswirkt und sich unter anderem in Lohnungleichheit niederschlägt. Derweil werden Berufskarrieren von Männern kaum oder gar positiv vom Kinderkriegen beeinflusst.

Zwei Wochen sind eine moderate Forderung

Eins dürfen wir dabei nicht vergessen: An einem gewollten traditionellen Familienmodell gibt es nichts auszusetzen. Dass es jedoch für jene, die es gerne moderner mögen und sich aber externe Kindebetreuung nicht leisten können, kaum umgänglich ist – das ist ein Missstand. Die Gleichstellung von Mann und Frau ist eigentlich seit 1981 in der Bundesverfassung verankert, die Gleichstellung bezüglich familiärer Betreuungs- und Erwerbsarbeit seit 1988 im Eherecht. Und auch der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub wird nicht restlos Abhilfe schaffen. Ein Blick nach Deutschland, Österreich und Frankreich, sowie nach Skandinavien zeigt, dass es sich bei zwei Wochen um eine moderate Forderung handelt. Dort hat sich nämlich anstelle von Mutter- und Vaterschaftsurlaub eine Elternzeit von bis zu zwei Jahren etabliert, die frei zwischen den Eltern aufgeteilt werden kann.

Darf man noch atmen?

Seit der Klimadiskurs im Januar 2019 die Schweiz im Sturm erobert hat, haben sich uns auch in diesem Rahmen wenig fruchtvolle Grundsatzdebatten eröffnet: Darf man noch Auto fahren? Fliegen? Fleisch essen? Ja, heizen? Und atmen? Diese in Kommentarspalten wie Parlamenten ausgetragenen Kämpfe lähmen auch hier den unausweichlichen Fortschritt. Über 300 Forschende können mit Erkenntnissen aus über 100 Forschungsprojekten des nationalen Forschungsprogramms «Energie» zeigen, dass ein wirtschaftlich und sozial verträglicher Ausstieg aus der Kernenergie und der CO2-intensiven Energiewelt möglich ist. Schon heute, mit heutigen finanziellen und technischen Mitteln – vorausgesetzt, wir ziehen alle am selben Strang.

Wie die Verantwortlichen des Forschungsprogramms in ihrer Medienmitteilung aber schreiben, legen die Ergebnisse der Forschungen nahe: Dafür fehlt es in der Bevölkerung an Akzeptanz einerseits und andererseits an Wissen darüber, wie zum Beispiel eine Lenkungsabgabe wirkt oder welche persönlichen Vorteile wir aus einem Umdenken schöpfen könnten.

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