In einer Welt, in der so manches fake ist, widmet sich das Stapferhaus Lenzburg zurzeit der Wahrheitsfindung und Lügenerkennung. Lumos stattete dem «Amt für die ganze Wahrheit» einen erkenntnisreichen Besuch ab.
Elena Oberholzer und Linda Leuenberger, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften
«Eine Prise Selbsttäuschung ist Teil unserer Realität, und das ist gut so», wird Peter Gasser an diesem Sonntag sagen. Weise Worte, mit denen der LSD-Psychiater aus Solothurn eine Schar neugieriger Zuhörerinnen segnet, die sich zur «Stunde der Wahrheit» im Stapferhaus in Lenzburg zusammengefunden haben. Die Schlange vor dem erst kürzlich in Betrieb genommenen, neuen Stapferhausgebäude reicht bis zum Lenzburger Bahnhof. Drinnen sagt der Projektleiter Alain Gloor, der die Podiumsdiskussion mit Peter Gasser moderieren wird: «Wir haben ja gehofft, dass viele Zuschauer kommen, aber das – das übertrifft unsere kühnsten Träume!» Währenddessen tragen Mitarbeitende im Höchsttempo neue Stühle in den überfüllten Saal. Wir von Lumos setzen uns vorne auf den Boden. Aber macht nichts. Wir sind da wegen des Wissens, da spielen Bequemlichkeiten keine Rolle.
Unter Drogen zum «wahren Ich»
Es stellt sich natürlich die Frage: Wer ist der ominöse LSD-Psychiater? Und was tut er? Peter Gasser ist nicht etwa ein verrückter Selbsthilfeguru, er ist ein echter «Dr. med.» und einer der handvoll Ärzte weltweit, die im Rahmen ihrer psychoanalytischen Therapien die halluzinogene Substanz LSD verschreiben dürfen. In diesem Rahmen begleitet Gasser psychisch kranke, vorwiegend an Angststörungen leidende Menschen durch einen plus-minus zehn Stunden dauernden LSD-Trip. Die Stapferhaus-Veranstaltung, an der er an diesem Sonntagvormittag vor versammeltem Publikum spricht, trägt den Namen «Trip zum ‹wahren Ich›». Und irgendwie ist es das, was LSD macht, wie Gasser erklärt: Es sei bekannt, dass LSD die Serotoninausschüttung begünstigt, dass es zahlreiche Hirnareale aktiviert und Netzwerke verknüpft, die in nüchternem Zustand nichts miteinander zu tun hätten. Er beschreibt die Substanz als einen Katalysator, eine Art Mikroskop, mit dem man sich selber genauer anschauen kann – mit dem sich das «Ich» ergründen lässt. Was oder wer auch immer «Ich» ist.
So therapierte Peter Gasser einen Mann, der unheilbar an Krebs litt und sich wegen Angstzuständen therapieren lassen wollte. Es sei insbesondere der Prozess des Sterbens, der Kontrollverlust über den eigenen Körper, welcher den Menschen Angst mache, erklärt er. Und weniger der Tod an sich. «Ein LSD-Trip ist doch aber der Kontrollverlust schlechthin», wirft der Moderator Alain Gloor ein. «Stimmt», erwidert Gasser, «aber ein Kontrollverlust, für den man sich aktiv entscheidet. Und man weiss: In zehn Stunden ist alles vorbei.» Genanntem Mann sei während des Trips sein verstorbener Vater erschienen, mit dem er sich zu dessen Lebzeiten zerstritten hatte. Der Vater habe ihm in der LSD-Halluzination freundlich zugenickt. Ein versöhnendes Erlebnis.
Ob er denn seinen Patienten zu radikaler Ehrlichkeit mit sich selbst rät, will Alain Gloor vom LSD-Psychiater wissen. Dieser überlegt kurz. Und sagt dann:
«Eine Prise Selbsttäuschung ist Teil unserer Realität. Und das ist gut so.»
Er doppelt mit einem Einstein-Zitat nach, gemäss welchem das Tiefste und Schönste nicht die Wahrheit, sondern das Geheimnis sei.
Im Amt für die ganze Wahrheit
Als wir uns im Anschluss an die LSD-Sitzung mit Kaffee und Keksen für den zweiten Teil unserer Konfrontation mit der Wahrheit stärken, sind wir noch munter. Dominik Mendelin, welcher uns durch die Ausstellung führen soll, holt uns aber schon nach einigen Sekunden wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. «Wann lügt ihr?», fragt er uns, ehe wir nur einen Türrahmen der eigentlichen Ausstellung zu Gesicht bekommen. Betretenes Schweigen. «Natürlich nie», sagt jemand aus unserer Gruppe, um die unangenehme Stille zu unterbrechen. Lüge! Dabei wollten wir uns doch heute der Wahrheitsfindung widmen – Mist. Mendelin, dessen Nachname ironischerweise schwer an das französische Wort «mentir» erinnert, leistet Abhilfe. An den gelben Lanyards, welche wir anfangs um den Hals gelegt bekommen hatten, baumelten unsere Besucherausweise, auf denen man Name, Datum und Unterschrift eintragen konnte. «Wenn ihr auf dieser Karte unterschreibt», erklärt er uns mit hämischem Grinsen, «dann bestätigt ihr, dass ihr euch während eures Besuches in der Ausstellung der ganzen Wahrheit verschreibt». Wir schlucken. Und nicken. Na dann los.
In der zentralen Lügenanlaufstelle zeigt uns Mendelin, dass Lüge nicht gleich Lüge ist. Er fordert uns auf, verschiedene Lügen auf einer Skala in «tödlich», «kann-man-mal-machen» und «nötig» einzuteilen. Wir diskutieren angeregt. Als wir merken, dass nicht alle in der Gruppe das gleiche Verständnis von Wahrheit haben, breitet sich Erstaunen und Unverständnis aus. Mendelin setzt noch einen drauf:
«Denkt immer daran, die Wahrheit von heute kann die Lüge von morgen sein.»
Das sitzt.
Weiter geht es durch das Amt, vorbei an Fake News, Pinocchionasen und üblen Fälschungen. Auch wenn uns die Räume des Amts für die ganze Wahrheit auf der Suche nach der Wahrheit helfen sollten, realisieren wir bald, dass deren Definition sehr viel mit uns selbst zu tun hat. Für Trump ist Wahrheit, dass der Klimawandel nicht existiert und Google seinen Wahlkampf manipuliert. Für einen Wissenschaftler ist die Wahrheit eine andere. Und für uns auch. Wahrheit ist eine Frage der Perspektive, eine Frage der Situation. Wie oft schon wollten wir etwas nicht wahrhaben, weil es nicht in unsere selbstkonstruierte Realität passt? Wie oft belügen wir uns selbst, um uns besser zu fühlen?
Am Ende unserer Führung fordert uns Mendelin auf, den «Raum der ganzen Wahrheit»zu suchen. Eifrig wie wir sind, laufen wir los. Tür um Tür durchforsten wir das ganze Amt. Während wir suchen, schiesst uns plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn Mendelin gelogen hat und es den Raum der ganzen Wahrheit nicht gibt, weil es die ganze Wahrheit nicht gibt?
Aufgepasst: Die SOL vergibt 13 X 2 Eintritte für die Ausstellung «FAKE. Die ganze Wahrheit» im Stapferhaus in Lenzburg. Meldet euch unter sol_info@stud.unilu.ch – es het solangs het…