«Was in Deutschland passiert, passiert in ganz Europa»: Eine zufällige Begegnung zwingt unsere Autorin zum Nachdenken über das anstehende Ende der Ära Merkel. Darüber, was diese bald vergangene Regierung für sie bedeutete und was sie sieht, wenn sie in ihre Zukunft in Deutschland blickt.
Für Lumos aus Berlin: Francesca Barp
Als ich kürzlich per Autostopp von Montpellier nach Barcelona unterwegs war, nahm mich irgendwo auf einer Landstraße ein US-Amerikaner mit, der gerade von Weingut zu Weingut fuhr. Er wurde ganz aufgeregt, als ich ihm offenbarte, dass ich in Berlin lebe: «Ihr wählt nächstes Jahr die Nachfolge von Angela, oder? Wie spannend, was wird passieren? Denn was in Deutschland passiert, passiert in ganz Europa», proklamiert er. Noch anderthalb Jahre – und dann sind 16 Jahre unter Merkel vorbei. Es fällt mir mit Ende 20 schwer, mir eine andere Kanzlerin vorzustellen. Zu sehr bin ich ihre royalblauen oder lachsfarbenen Blazer inmitten der schwarzen Anzüge bei internationalen Treffen gewohnt – an ihr langsames Sprechen und die zur Raute gespitzten Hände.
Ob ich «Team Merkel» sei, fragt mich der Autofahrer, während wir über die Serpentinen der Pyrenäen kurven. Eine schwierige Frage, denn wenn «Merkel muss weg!» in Kleinstädten von Menschen gebrüllt wird, deren Chor auch bei Hetzjagden auf Geflüchtete Beifall klatscht, bin ich freilich Team Merkel. Merkels Entscheidung, 2015 vom Dubliner Übereinkommen auszusetzen und damit für geflüchtete Menschen Asylanträge in Deutschland zu ermöglichen, die sie andernfalls in den EU-Ländern hätten stellen müssen, die sie zuerst betreten haben, halte ich für richtig und wichtig. Organisatorisch war die Zeit nach dem Sommer 2015 hingegen eine Krise, die von zahllosen solidarischen Gruppen und Einzelpersonen aufgefangen werden musste, welche das Versagen der Bürokratie erträglich gemacht haben. Da formuliere ich Kritik an Merkels Politik. Ebenfalls an der Politik ihrer Regierung, was die Finanzen der Europäischen Union betrifft: die drakonische Finanzpolitik gegenüber südeuropäischen Ländern, die unter zweifelhaften Bedingungen in die EU aufgenommen wurden. Innenpolitisch nehme ich sie konturenlos wahr, weiß kaum, wofür sie steht.
Der US-Amerikaner stimmt ungeduldig zu. Aber was kommt nun, will er wissen und die Weinflaschen in seinem Kofferraum klappern. Gute Frage. Spontan antworte ich: Es wird eine schwarz-grün-rote Regierung geben, in der Reihenfolge. Die CDU lebt von ihrer Kernwählerschaft und der Verlässlichkeit, die sie im Vergleich zu den anderen Parteien verspricht. Grün erlebt freilich einen Aufschwung, getragen von sozialen Bewegungen, die Umweltschutz zu zentralen Themen des öffentlichen Diskurses in Deutschland machen. Die SPD ist auf dem absteigenden Ast, taumelt bei den vergangenen Landtagswahlen zwischen zehn und zwölf Prozenten, findet keinen Spitzenkandidaten und wird doch an der Regierung beteiligt sein, um die Mehrheit zu ermöglichen. Die drei schließen sich zusammen, um die AfD aus der Regierung auszuschließen und in ihrer Rolle als Opposition zu behalten. Die AfD wird Gewinne einstreichen und zufrieden sein, die vielen Konflikte, die es zwischen schwarz-grün-rot geben wird, auszuschlachten. Es würde eine anstrengende Koalition werden, und wer sie anführen soll, kann ich mir noch nicht vorstellen. Ob sie eine Legislaturperiode durchhält, auch nicht.
Wir überqueren die französisch-spanische Grenze. In Canfranc, dem letzten Ort Spaniens, gibt es einen Umschlagbahnhof, an dem während Francisco Francos faschistischer Diktatur von 1936 bis 1975 alle Güter von spanischen Zügen in französische umgelagert werden mussten, weil die Züge unterschiedlich gebaut waren. Abschottung. Der US-Amerikaner nickt hinüber zu den Gleisen. Er habe eine Dokumentation der New York Times über Alice Weigel von der AfD gelesen. Er fragt mich, ob der Faschismus in Deutschland wieder Einzug hält und: ob ich Neonazis kenne. Ich habe in Dresden gewohnt, während die Pegida ihre Höhepunkte hatte. Habe in Hausprojekten gelebt, die nachts mit Brandkörpern angegriffen wurden und habe Wache vor Geflüchtetenunterkünften im Umland gestanden, weil die Sicherheitsdienste einfach gingen, wenn sich biertrinkende Dorfbewohner versammelten.
Es fällt mir schwer, ihm das alles zu sagen, ich antworte knapp: Ja, ich habe Angst, wenn ich außerhalb von Großstädten mit Freundinnen unterwegs bin, die nicht weiß sind. Ich habe Angst vor den Wahlerfolgen der AfD und der Verrohung der Sprache im Internet. Ständig neue Skandale über Polizisten und Bundeswehrsoldaten, die in rechten Netzwerken aktiv sind, schützenswerte Informationen in rechte Strukturen fliessen lassen. Meine Freundinnen in Sachsen verlieren ihre Stellen in demokratiefördernden Projekten, weil deren Finanzierung mit der AfD im Landtag gestrichen wird. Ich hoffe, die Leute merken, dass ihre Befürchtungen über die letzten vier Jahre unerfüllt geblieben sind. Dass sie keine Jobs verlieren wegen der neuen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Dass die Neuankömmlinge nicht mit dem Ziel einreisen, irgendwem gewaltvoll zu schaden, sondern sich eine Chance auf ein gutes Leben mit Arbeit, Sicherheit und einer Familie erhoffen, da sie in der Lotterie des Geburtsortes zunächst weniger Glück hatten als jene mit einem deutschen Pass.
Der Autofahrer wirkt unruhig auf mich. Er habe Donald Trump gewählt, weil er schon immer Republikaner wählt und Hillary Clinton so unehrlich sei. Er habe vieles nicht ernst genommen, was Trump im Wahlkampf sagte, ihm auch oft nicht zugehört. Nachdem Trump die Gewalt der rechten Demonstrierenden in Charlottesville verharmlost hat, Menschen über Monate in Gefängnissen in Flughäfen festhielt und Kinder von ihren Eltern trennte, war er erschüttert, wie er sagt. Er schämt sich, dazu beigetragen zu haben, dass dies passieren konnte. Nun frage ich, was er zur kommenden US-Wahl denkt. Er fürchtet Trumps Wiederwahl, er selbst wird zum ersten Mal die Demokraten wählen, komme was wolle, aber er rechnet mit einem Triumph für Trump. Die letzten Minuten der Fahrt starren wir beide in Gedanken vor uns hin – vielleicht ein bisschen desillusioniert.
Wir sind angekommen. Der Fahrer springt aus dem Auto und holt flink eine Flasche Wein aus dem Kofferraum: «Trink heute Abend ein Glas auf die anderthalb Jahrzehnte Angela! Wer weiß, was nun kommt. Und den Rest der Flasche auf jede einzelne von euch, die mutig genug ist, die Freiheit und die Gleichheit aller Menschen zu verteidigen.»