Der Brexit ist und bleibt das dominierende Thema der britischen Politik. Seine Auswirkungen gehen aber weit über den Politikbetrieb hinaus. Ein kleiner Stimmungsbericht aus Oxford.
Für Lumos aus Oxford: Louis Fedier, Judaistik (Text & Bilder)
Melissa würde gerne zügeln. Sie wohnt mit ihrem Mann und einer dreijährigen Tochter in einem südöstlichen Vorort von London und muss jeden Morgen zwei Stunden Autofahrt auf sich nehmen, um zu ihrem Arbeitsplatz in Oxford zu gelangen. Nach getaner Arbeit wiederholt sich das Ganze in umgekehrter Richtung, nur dass der Feierabendverkehr in und um London die Fahrtdauer um mehr als eine Stunde verlängern kann. Dass diese Situation für sie und ihre Familie alles andere als optimal ist, liegt auf der Hand. Was weniger offensichtlich ist, ist der Grund, weshalb ein Wohnortswechsel für Melissa momentan nicht möglich ist: der Brexit.
Eine zutiefst gespaltene Nation
Der (vielleicht?) bevorstehende Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union (siehe Infobox) hat auch drei Jahre nach dem schicksalshaften Referendum nichts an Spaltkraft eingebüsst und treibt die verschiedenen Gruppen innerhalb der britischen Gesellschaft immer noch weiter auseinander. Brexit-Befürworter und -Gegner bezichtigen sich gegenseitig der Missachtung des Volkswillens, während eine immer grösser werdende Zahl von Menschen gelangweilt vom ewigen politischen Hickhack und der medialen Omnipräsenz des Themas in einem Zustand der politischen Indifferenz versinkt. Daran ändert auch der neue Premierminister Boris Johnson nichts, der ja bekanntlich willens ist, den Brexit um jeden Preis am 31.Oktober diesen Jahres durchzusetzen – zur Not auch ohne Vereinbarung mit der EU. Ein solcher «No-Deal-Brexit » würde aber tiefgreifende Folgen für das ganze Land nach sich ziehen.
Die dadurch entstehende Zollgrenze zwischen der Republik Irland (EU) und Nordirland (Nicht-EU) könnte zu einem Wiederaufflammen des durch das Karfreitagsabkommen 1998 eingedämmten Nordirlandkonflikts führen, während es im Rest des Königreichs zu Volksaufständen und Unruhen kommen könnte. Die über Nacht neu auf das UK zukommenden Zollformalitäten am Hafen von Dover hätten wahrscheinlich einen LKW-Rückstau bis nach London zur Folge, was die Aufrechterhaltung der Kühlkette für Fleisch-, Frucht- und Gemüsetransporte nahezu verunmöglichen würde und somit eine Nahrungsmittelverknappung in weiten Teilen des Landes zur Folge hätte. Ausserdem bestünde das Risiko, dass lebenswichtige Medikamente nicht mehr rechtzeitig die Spitäler erreichen könnten. Nicht zuletzt könnten all diese Probleme dazu führen, dass Schottland und Wales die Unabhängigkeit erklären und das Vereinigte Königreich damit faktisch auseinanderbräche.
Klingt katastrophal? Nun, die Befürworter eines harten Brexits – in Anlehnung an die drei Musketiere (musketeers) manchmal «Brexiteers» genannt – tun solche Bedenken als linke Angstmacherei ab und sprechen vom «Project Fear», einer angeblich auf Furcht ausgelegten Propagandaaktion europafreundlicher Kreise, die damit eventuell bevorstehende Schwierigkeiten masslos übertreiben und so den Volkswillen zu untergraben versuchen. Der Brexit, so seine Vorkämpfer, werde dem Land nicht schaden, sondern die alte Grösse und Unabhängigkeit des Königreichs wiederherstellen und allenfalls minime Veränderungen für das Gros der Gesellschaft bedeuten.
Abwarten und Tee trinken
Die Wahrheit wird wohl – wie so oft irgendwo – dazwischen liegen. Dennoch sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass niemand effektiv weiss, was im Falle eines ungeregelten Brexits tatsächlich geschehen würde. Fakt ist aber, dass der eventuell bevorstehende Austritt aus der EU schon jetzt zu höchst realen Folgen geführt hat.
Nebst dem allgemeinen Schwächeln der britischen Wirtschaft macht sich der geplante Austritt aus der Europäischen Union auch in den Supermärkten bemerkbar; die Angst vor einer Nahrungsmittelknappheit verleitet immer mehr Menschen zu Hamsterkäufen von Konservenfrüchten und -Gemüse, sodass es hin und wieder leere Discounter-Regale gibt. Hinzu kommt , dass der britische Immobilienmarkt momentan so gut wie eingefroren ist und kaum noch Häuser verkauft bzw. Wohnungen neu vermietet werden, weil alle Hauseigentümer zunächst die weitere Entwicklung der Situation abwarten wollen. Melissa wird also bis auf weiteres Pendlerin bleiben müssen.
Brexit?
Als «Brexit» (Britain + Exit) bezeichnet man den Austritt des Vereinigten Königreichs von Grossbritannien und Nordirland (UK) aus der Europäischen Union (EU).
Schlüsseldaten:
23. Juni 2016: 51.9% der Briten stimmen beim Europa-Referendum für den Brexit; Premierminister David Cameron tritt kurz darauf zurück. Theresa May übernimmt den Posten.
29. März 2017: Die britische Regierung erklärt offiziell den Austritt aus der EU, der innerhalb von genau zwei Jahren erfolgen soll. Eine zähe Verhandlungsphase beginnt, während der die Deadline zweimal verschoben wird.
24. Mai 2019: Auf Drängen des Parlaments und ihrer eigenen Partei kündigt Theresa May ihren Rücktritt an.
24. Juli 2019: Der Brexit-Hardliner Boris Johnson wird neuer britischer Premierminister und verspricht einen Brexit am 31. Oktober ohne Wenn und Aber.
3. September 2019: Johnson verliert die Mehrheit im Unterhaus und kündigt Neuwahlen an.
Infobox: Louis Fedier, BA Judaistik