Prognosen für die nationalen Wahlen im Herbst verzeichnen einen Linksrutsch, wie es ihn seit vier Legislaturperioden nicht mehr gegeben hat. Die grüne Welle hat den Umweltparteien im Mai Auftrieb verschafft. Aber lässt sich diese Entwicklung bis im Oktober aufrecht erhalten? Die Rufe der Klimajugend sind jedenfalls längst nicht verhallt.
Linda Leuenberger, Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften (Text) & Jonathan Biedermann (Fotos)
Greta Thunberg heisst die Aktivistin der Stunde, die im Spätsommer des vergangenen Jahres mit ihrem «Skolstrejk för klimatet» Schild vor dem schwedischen Parlament aufmarschierte – und die «Fridays For Future» zum Leben erweckte. Wenig später hat die Klimabewegung auch in der Schweiz Fuss gefasst. Die Klimastreiks haben hierzulande einen politischwirtschaftlichen Diskurs zwischen Jung und Alt entfacht, zwischen Umweltschutz und Kapitalismus. Den eingesessenen Institutionen wird mit hoffnungsfrohem und unbedingtem Veränderungsgeist entgegengetreten; Gymnasiastinnen liefern sich öffentliche Debatten mit den Mächtigen der Wirtschaft und Politik dieses Landes; eine grüne Welle schwappte in die Kantonsparlamente.
Dass die Jugend gegen «die Alten» in den Ring steigt, macht sich auch hinsichtlich der nationalen Wahlen am 20. Oktober bemerkbar: Das Wahlbarometer der SRG verzeichnete schon im Februar eine Linkstendenz. Anfangs Juni – vier Monate vor den Wahlen – wurde diese Tendenz bestätigt: «Ein Linksrutsch wie seit 16 Jahren nicht mehr», titelt der entsprechende SRGArtikel. Und auch das Wahlbarometer von Ende August zeigt ein ähnliches Bild: Die Grünen (+3,4 Prozent) und die Grünliberalen (+2.3 Prozent) setzen ihren Aufwärtstrend fort, vor allem auf Kosten der SVP, für welche sich im Vergleich zu den letzten Nationalratswahlen ein Rückgang von 2,6 Prozent verzeichnen liess. Die Sozialdemokraten und die FDP bleiben relativ stabil.
Grün ist das neue Schwarz
Die Bilanz: Das Volk interessiert sich zunehmend für grüne – und (damit) auch für «rote» – Anliegen. In bürgerlichen Kreisen ist darum einiges los: Während die SVP den Klimateufel in sämtliche Haushalte schickt, reisst die FDP das Steuer herum und eignet sich einen Grünschimmer an. Und auch im Parlament tut sich was: Noch im Dezember hatte die bürgerliche Mehrheit des Nationalrats die CO2GesetzesRevision zu Fall gebracht. Im August schlug dann die ebenfalls bürgerlich geprägte Umweltkommission des Ständerats weitreichende Massnahmen zum Klimaschutz vor. Es handelt sich dabei um ein Massnahmenpaket – das unter anderem die umstrittenen Flugticketabgaben beinhaltet – mit welchem «das NettonullEmissionsziel bis 2050 des Pariser Abkommens erreichbar wäre», wie die Kommission in ihrer Mitteilung vom 16. August schreibt.
Nachdem in Sachen anthropogenem Klimawandel jahrelang kaum etwas gegangen ist, kommt die Politik nun scheinbar ins Rollen. Trotz dieses Erfolgs wird die Klimajugend nicht müde, beharrlich an ihren – zwar ambitiösen, aber wissenschaftlich fundierten – Forderungen festzuhalten. Und vor allem die wahlbefähigte Bevölkerung und die Politik zum Handeln anzuregen.
Kritik am linken Lager: „2050 ist zu spät“
Ob die Streikbemühungen indes für die nationalen Wahlen tatsächlich ausschlaggebend sein werden, sei ungewiss, wie ein Klimastreikender im Gespräch mit dem Onlinemagazin Republik festhält. Selber ein Mitglied der SP, geht der 17Jährige mit der politischen Linken hart ins Gericht. Das Bewusstsein für die Problematik fehle bis tief ins linke Lager: «Wir dürfen die Klimaneutralität nicht erst 2050 erreichen. Das ist viel zu spät.» In einem Interview mit demselben Magazin rechnet Greta Thunberg mit der grünen Politik ab:
«Die grünen Parteien sind auch nicht gut.»
Greta Thunberg
Und zwar darum: «Nur weil sie das Wort grün im Namen haben, heisst das nicht, dass sie automatisch die beste Partei sind. Keine Partei ist auch nur annähernd dran an dem, was eigentlich getan werden müsste.»
Dass die Grünen und Grünliberalen trotzdem von der losgetretenen Klimawelle profitier(t)en, steht ausser Frage. Dass sich die Bevölkerung durch den diesjährigen Hitzesommer schwitzen musste, dürfte ihnen ebenfalls in die Hände spielen. Nur: Es liegt in der Natur von Wellen, dass sie verebben. Wie lange werden die Umweltpolitikerinnen noch darauf surfen können? Und: Wie geht es nach den Wahlen weiter?
Wie die Wahlen auch verlaufen, wird die grüne Welle als erklärende Variable hinzugezogen werden müssen. Eine Wahlumfrage von Tamedia von Ende Mai zeigt aber: Bei der Frage, wer in der nächsten Legislatur im Nationalrat mitmischen darf, werden insbesondere Sorgen um Gesundheitskosten und um die Altersvorsorge sowie um das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union ins Gewicht fallen. Das Klima muss sich bei der Problemwahrnehmung mit Platz vier begnügen. Dies mag daran liegen, dass die Umweltparteien vor allem bei der jüngeren Bevölkerung punkten – und bei dieser ist die Wahlbereitschaft bekanntlich kleiner als bei älteren Jahrgängen.